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Digitale Verdummung

Werden wir dümmer? Forscher entdecken immer weiter sinkende IQ-Werte

Nahaufnahme eines bunten Rubik-Würfels, der Konzentration und Spiel zeigt.
(Foto: Pexels)

Der Flynn-Effekt kehrt sich um: Nach Jahrzehnten steigender IQ-Werte zeigen Studien nun einen beunruhigenden Abwärtstrend in zahlreichen Industrieländern.

Jahrzehntelang galt es als wissenschaftlich gesichert: Die Menschheit wird immer klüger. Fast das gesamte 20. Jahrhundert hindurch verzeichneten Forscher einen stetigen Anstieg bei Intelligenztests – ein Phänomen, das als Flynn-Effekt bekannt wurde. Durchschnittlich kletterte der IQ um etwa drei Punkte pro Jahrzehnt, was Experten auf bessere Ernährung, Bildungszugang, medizinische Versorgung und vielfältigere Umweltreize zurückführten.

Doch dieser optimistische Trend scheint gebrochen: In den vergangenen Jahrzehnten mehren sich die Hinweise, dass die kognitive Entwicklung stagniert oder in manchen Regionen sogar rückläufig ist.

Der Rückgang der Intelligenz

Besonders aufschlussreich ist eine großangelegte norwegische Untersuchung, bei der Wissenschaftler die Daten von mehr als 730.000 Wehrpflichtigen aus den 1970er Jahren bis 2009 auswerteten. Die Ergebnisse zeichnen ein klares Bild: Bis Mitte der 1990er Jahre stiegen die IQ-Werte kontinuierlich an, begannen danach jedoch zu sinken. Die im renommierten Fachjournal PNAS veröffentlichte Studie kommt zum Schluss, dass nicht etwa genetische Faktoren, sondern Umwelt- und Erziehungseinflüsse für diesen Wandel verantwortlich sind.

Ähnliche Entwicklungen wurden mittlerweile auch in Dänemark, Finnland, Frankreich und Großbritannien nachgewiesen.

Auch die PISA-Tests, mit denen die OECD alle drei Jahre die Fähigkeiten 15-jähriger Schüler weltweit vergleicht, untermauern diese Tendenz. Der jüngste Durchgang von 2022 offenbarte sinkende Leistungen in Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften in zahlreichen Industrieländern – darunter Österreich, Deutschland, Frankreich, Island und Slowenien. Die PISA-Berichte führen diese Entwicklung auf verschiedene Ursachen zurück: von pandemiebedingten Lernrückständen bis hin zu langfristigen Bildungsreformen, die systematisches Denken und analytische Fähigkeiten zugunsten flexiblerer, aber oberflächlicherer Lernansätze verdrängt haben.

Ursachen des Rückgangs

Der Trend setzt sich auch bei amerikanischen Hochschulzugangstests wie SAT und ACT sowie bei militärischen Eignungsprüfungen fort. Das US-Verteidigungsministerium verzeichnet in seinem aktuellen Bericht einen sinkenden Anteil an Bewerbern, die die grundlegenden kognitiven Anforderungen für den Militärdienst erfüllen. Die Ursachen für diese Entwicklung sind vielschichtig. Kein einzelner Faktor erklärt den Rückgang vollständig, doch ihr Zusammenspiel liefert mögliche Erklärungen.

Bildungsreformen haben den Schwerpunkt von analytischem Denken und tiefgreifendem Lernen hin zu „weichen“ Fähigkeiten und Gruppenarbeit verschoben. Die allgegenwärtige digitale Ablenkung durch Bildschirme, soziale Medien und ständiges Multitasking verkürzt die Aufmerksamkeitsspanne und erschwert konzentriertes Nachdenken. Immer weniger Jugendliche lesen regelmäßig längere Texte, was die Fähigkeit zum Verständnis und zur Verknüpfung komplexer Informationen beeinträchtigt.

Hinzu kommen weniger Freizeit im Freien, reduzierte natürliche Spielerfahrungen und eine Kindheit, die zunehmend in geschlossenen Räumen stattfindet – all das verringert die kognitive Stimulation in den entscheidenden Entwicklungsjahren. Nicht zuletzt beeinflussen chronischer Schlafmangel, ungesunde Ernährung mit hohem Zuckeranteil und wachsender psychischer Druck die Gehirnentwicklung negativ.

Wichtig ist jedoch zu betonen, dass nicht alle Experten von einem generellen Intelligenzrückgang ausgehen. Kritiker weisen darauf hin, dass herkömmliche IQ-Tests vorwiegend akademische und logische Fähigkeiten messen, während sie digitale Kompetenz, multimediale Informationsverarbeitung, soziale Anpassungsfähigkeit und Kreativität vernachlässigen. Viele der heute gefragten kognitiven Fähigkeiten werden von klassischen Testverfahren gar nicht erfasst.

Expertenperspektiven

Der Psychologe Prof. Denis Bratko von der Kunstuniversität Belgrad sieht mehrere mögliche Erklärungen für den IQ-Rückgang. „In der Fachliteratur wird manchmal der Jensen-Effekt angeführt. Arthur Jensen vertrat die Ansicht, dass Menschen mit niedrigerem Bildungsstand und sozioökonomischem Status durchschnittlich mehr Kinder haben, was das biologische Potenzial für Intelligenzsteigerungen verringern könnte“, erläutert Bratko.

„Sozioökonomischer Status und Bildungsniveau korrelieren mit Intelligenz mit einem Faktor von etwa 0,40 bis 0,60, und Menschen mit höherem sozioökonomischem Status haben im Durchschnitt weniger Nachwuchs.“

Bratko betont jedoch, dass der Anti-Flynn-Effekt nicht überall auftritt. „Er hängt vom Entwicklungsstand der jeweiligen Gesellschaft ab. Steigt beispielsweise der Anteil hochgebildeter Menschen, wird vermutlich auch der durchschnittliche IQ zunehmen. Laut einer Diplomarbeit von Oliver Martin Mersinjak aus dem Jänner 2024 ist die fluide Intelligenz in Kroatien von 1986 bis 2004 jährlich um etwa 0,3 IQ-Punkte gestiegen“, so der Experte.

„Intelligenz ist im Grunde eine Anpassungsfähigkeit“, führt Bratko aus. „Menschen entwickeln sie, um in ihrer spezifischen Umgebung besser zurechtzukommen. Im Dschungel werden andere Fähigkeiten benötigt als in einer Umgebung, die verbale und analytische Kompetenzen erfordert. Deshalb würde ich nie behaupten, dass Kroaten einen höheren oder niedrigeren durchschnittlichen IQ haben als andere Nationen.“

Bratko vermutet, dass auch die rasante Entwicklung der künstlichen Intelligenz den Anti-Flynn-Effekt verstärken könnte: „Menschen bekommen heute zu leicht Lösungen und Antworten. Sie geben etwas in ChatGPT ein und erhalten einen kompletten Aufsatz.“

Viele Probleme würden heutzutage von außen durch Technologie gelöst, anstatt dass wir selbst darüber nachdenken, Informationen auswerten und eigene Lösungen entwickeln.