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BRAIN-DRAIN

Wenn die junge Elite das Land verlässt: Kroatien

Doc. dr. sc. Tado Jurić
Doc. dr. sc. Tado Jurić (FOTO: zVg.)

In der Untersuchung haben sie auch angeführt, dass die Medien, die das ganze Thema einseitig darstellen und die Abwanderung von Menschen aus dem Land geradezu befeuern, ein besonderes Problem innerhalb des Phänomens Migration darstellen. Dank ihnen herrscht in Kroatien derzeit eine Art moralischer Panik und kollektiver Psychose. Führt diese Haltung gegenüber der Migration zu einer Missachtung des eigenen Staates, die nach Meinung vieler eine viel größere Gefahr für das „Aussterben“ der Kroaten in Kroatien bedeutet als der niedrige Standard? Und ist die Migration heute tatsächlich Voraussetzung für ein besseres Leben oder ist sie nicht eigentlich zum Trend geworden?

Die Medien haben sicherlich sowohl eine positive als auch eine negative Rolle in dem ganzen Prozess gespielt. Auf der einen Seite vermitteln die Medien das Bild, dass diejenigen, die im Land geblieben sind, Verlierer sind, und die, die abgewandert sind, Sieger. Auf der anderen Seite ist es ihnen gelungen, die politischen Eliten dazu zu zwingen zuzugeben, dass das Problem der Abwanderung heute ein Schlüsselproblem der kroatischen Gesellschaft ist, womit sie auch eine erhebliche positive Rolle gespielt haben.

Eine der häufigsten Manipulationsstrategien der kroatischen politischen Eliten ist die Gleichsetzung der Begriffe „Land“ und „Staat“: Das Land Kroatien ist schön, aber der Staat Kroatien ist es nicht.

Um auf diese Frage zu antworten, bedienen wir uns einiger Erkenntnisse der Psychologie. Der Mensch hat nämlich das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Anerkennung. Das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer größeren Menschengruppe ist ein ewiger psychologischer Grundzug, der dem Menschen ein Sicherheitsgefühl, Selbstvertrauen und Identität gibt. Abraham Maslow nennt im Rahmen seiner Theorie über die menschliche Motivation als drittdringlichstes menschliches Bedürfnis gerade dieses Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Bindung. Aber auch das außerordentlich wichtige Bedürfnis nach Sicherheit versucht der Einzelne innerhalb der Gemeinschaft zu befriedigen. Und das ist tatsächlich eine der wichtigsten Rollen der nationalen Identitäten und Gemeinschaften. Darum bemüht sich jede Nation, die emotionalen Bedürfnisse des Einzelnen zu befriedigen, indem sie ihm die Gefühle von Zugehörigkeit und Gemeinschaft vermittelt, und sie bietet ihm einen festen Rahmen für Orientierung und Glauben, womit sie seinem Verhalten Bedeutung und Sinn gibt. In diesem Wissen setzen die politischen Eliten dieses menschliche Bedürfnis und diese Gefühle sehr oft manipulativ ein. Eine der häufigsten Manipulationsstrategien der kroatischen politischen Eliten ist die Gleichsetzung der Begriffe „Land“ und „Staat“. Zu diesem Zweck sprechen die politischen Eliten oft davon, dass Kroatien so ein schönes Land zum Leben ist und dass alle Ausländer die Schönheit des Landes Kroatien anerkennen, während die Kroaten selbst sie offensichtlich nicht sehen können und abwandern… Das heißt, sie setzen die Attraktivität des Landes Kroatien mit der Attraktivität des Staates Kroatien gleich. Die Wahrheit hingegen lautet: Das Land Kroatien ist schön, aber der Staat Kroatien ist es nicht. Wie es in letzter Zeit oft in den Medien heißt, ist er den einen Mutter und den anderen Stiefmutter.

In Ihrer Untersuchung haben Sie gezeigt, dass Migration nicht unbedingt auch Verlust bedeuten muss. Können Sie uns das im Detail erklären? Und auf welche Weise kann man Migration als Gewinn nutzen?

Migration muss tatsächlich nicht unbedingt Verlust bedeuten und Abwanderung muss nicht als dauerhafter Verlust für den Staat gesehen werden. Zu betonen ist jedoch, dass es in Fällen, in denen es um die endgültige Migration ganzer Familien geht, wie in dem Fall, in dem sich Kroatien (aber auch BIH und Serbien) befindet, keine positiven Auswirkungen auf das Herkunftsland gibt außer dem Einfluss der Abwanderung der jungen unbeschäftigten Bevölkerung auf den Arbeitsmarkt (Akrap u.a., 2017).

Im Falle Kroatiens zeigt die Untersuchung, dass ein Teil der kroatischen Migranten (13 %) bewusst oder unbewusst ein Lebensmodell an zwei Standorten wählt. Aus der Literatur ist bekannt, dass Migranten eine gleichstarke Identifikation mit dem Raum empfinden können, in dem sie physisch leben, wie mit dem Raum, den sie verlassen haben. Es liegt an Kroatien, Modelle zu finden, um diese Situation zu seinem Nutzen zu wenden. Leider ist es aufgrund der Abwesenheit jeglicher Strategie schwer denkbar, dass in dieser Frage kurzfristig eine entscheidende Änderung eintreten könnte.

Wie es scheint, ist das einzige, was uns übrigbleibt, um die zu kämpfen, die noch nicht abgewandert sind, und zu versuchen, die, die bereits gegangen sind, zu einer zyklischen Migration zu motivieren. Dabei denken wir an das Modell sogenannter transnationaler Räume, nach dem Migranten ein Leben an zwei Orten entwickeln und pflegen. So wird sich ein gewisser Anteil auch in der Heimat auf geschäftliche Unternehmungen einlassen (das führen 10 % der Befragten an). In jedem Fall ist es realistischer, eine solche Entwicklung der Situation zu erwarten, als zu denken, dass die abgewanderten Kroaten in größerer Zahl heimkehren werden.

Kroaten sind vor der Ungerechtigkeit geflohen, nicht vor der Armut.

Wie erklären Sie es, dass aus Kroatien mehr arbeitende Menschen abwandern als arbeitslose?

Die Hauptmotive der Abwanderung sind nach Einschätzung der Migranten selber nicht ökonomischer Natur. Die meisten waren beschäftigt, daher kann man nicht sagen, sie seien einfach vor der Armut geflohen. Ich glaube, dass es richtig ist zu sagen, die Kroaten sind vor der Ungerechtigkeit geflohen, nicht vor der Armut.

Denn die Analyse der Angaben der Abwanderer hat gezeigt, dass das Hauptmotiv für die Abwanderung aus dem Land die Vorstellung ist, dass in Kroatien die Werte der Arbeitsethik und der Ehrlichkeit überhaupt nicht institutionalisiert sind. Die Wahrnehmung der Migranten ist, dass die kroatische Gesellschaft moralisch gebrochen ist.

Wir wollen die wirtschaftlichen Motive der Abwanderung bei einer großen Zahl kroatischer Migranten keinesfalls kleinreden. Denn es ist klar, dass ein „normales“ Leben nicht nur einen geordneten Staat, sondern auch eine Wirtschaft mit Perspektive umfasst. Das Problem des schwachen Rechtsstaats und der schwachen Wirtschaft sind auf jeden Fall miteinander verbunden.

Dieses Problem hat also mehrere Dimensionen. Auf jeden Fall muss man auch das Image und die Attraktivität Deutschlands unter den Kroaten berücksichtigen. Deutschland ist für die Kroaten aus fünf Gründen attraktiv. Der erste ist, dass Deutschland sehr nah ist, d.h. es ist wie ein Magnet, dem man sich nur schwer entgegenstellen kann. Dann ist es Tatsache, dass kaum ein Volk die Deutschen so sehr schätzt wie die Kroaten. Dazu kommt, dass auch die Deutschen die kroatischen Arbeitskräfte schätzen und viele unserer Verwandten und Freunde bereits dort sind, d.h. es bestehen ausgedehnte Migrantennetzwerke… Aber es besteht auch eine besondere geopolitisch-kulturologische Situation Kroatiens, das wirkt, als sei es aus einer germanischen Kolonie entstanden, und die Kroaten sind in hohem Grade germanisiert. Dazu kommen natürlich auch die klassischen Anziehungspunkte Deutschlands: der sichere Arbeitsplatz, die höheren Löhne, das sichere soziopolitische System.

Das Hauptmotiv für die Abwanderung aus dem Land die Vorstellung ist, dass in Kroatien die Werte der Arbeitsethik und der Ehrlichkeit überhaupt nicht institutionalisiert sind. Die Wahrnehmung der Migranten ist, dass die kroatische Gesellschaft moralisch gebrochen ist.

Viele wandern auch auf der Suche nach besseren Möglichkeiten für ihre berufliche Weiterentwicklung ins Ausland ab, denn die bietet ihnen Kroatien nicht. Was müsste man ihrer Meinung nach im kroatischen Bildungssystem verändern und auf welche Weise?

Die Untersuchung hat gezeigt, dass überwiegend gut ausgebildete und verheiratete Personen abwandern, die in Kroatien beschäftigt waren und ständige Einkünfte hatten. Diese Tatsache impliziert, dass eine gute Ausbildung in Kroatien unterschätzt wird und dass die Menschen bereit sind, ein anderes Umfeld zu suchen, in dem sie mehr geschätzt werden. Aber wichtig ist auch zu betonen, dass die Migranten generell nicht nur für sich, sondern auch für ihre Kinder eine bessere Zukunft anstreben. Darum ist diese Migration, die wir in Kroatien beobachten, nicht nur eine ökonomische Migration, sondern es handelt sich um eine Umsiedlung der Kroaten, wie wir bereits gesagt haben.

Das Mittelschul- und Hochschulsystem aller Balkanstaaten ist so organisiert, dass die junge Bevölkerung eigentlich für die Migration ausgebildet wird. Dieses Missverhältnis zwischen der Zahl der im akademischen Studium ausgebildeten Fachleute bestimmter Profile  und dem tatsächlichen Bedarf in Kroatien, aber auch in B-H und in anderen Ländern der Region, ist so, dass diese Menschen in diesen Ländern keine Arbeit finden können.

„Kroatien müssen endlich begreifen, dass Handwerksberufe nicht minderwertig und perspektivlos sind. Die Einführung einer dualen Ausbildung nach dem Prinzip des deutschen Ausbildungssystems wäre sicherlich ein guter Anfang.“

Wenn wir die Tatsache berücksichtigten, dass gerade die kleinen und mittleren Handwerksbetriebe Deutschland groß gemacht haben, dann ist es vielleicht logisch, dass auch wir diesen Weg einschlagen. Darum muss auch Kroatien endlich begreifen, dass Handwerksberufe nicht minderwertig und perspektivlos sind. Die Einführung einer dualen Ausbildung nach dem Prinzip des deutschen Ausbildungssystems wäre sicherlich ein guter Anfang.

Ein zusätzliches Problem bildet auch die Tatsache, dass viele der akademischen Gemeinschaften danach streben, ihren Status und ihre Honorare zu bewahren, ohne über das Schicksal der Generationen nachzudenken, die sie unterrichten. Und in dieser Ignoranz tun sich auf jeden Fall die Politiker hervor, die nicht weiter sehen, als ihre eigenen Interessen reichen. Wenn wir all das betrachten, ist in Kroatien und B-H derzeit das höchste Maß an Egoismus erreicht, das wir je gesehen haben.

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