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Balkan Stories: Die Legende von Johanna

FOTO: Balkan Stories

Dit‘ e nat‘ ist für immer geschlossen. Das legendäre Lokal war die erste alternative Bar Prishtinas. Letzte Versuche von Besitzer Genc Salihu, Partner an Bord zu bringen, scheiterten. Für die Gäste kam das Aus überraschend. Viele fühlen sich heimatlos.

Eine Flasche mazedonische Loza steht auf der Schank. Genc Salihu gießt Stamperl für seine Mitarbeiter und ein paar Freunde ein, die vorbeigekommen sind.

Mit Ausnahme der Kellnerin und der Kellner weiß praktisch niemand, dass heute der letzte Abend für das legendäre alternative Lokal Dit‘ e nat‘ im Zentrum der kosovarischen Hauptstadt Prishtina ist.

„15 Jahre, was soll ich dir sagen“, fragt mich Genc. Er ist der Gründer des Dit‘ e nat‘. „Es ist vorbei. Da kommen schon Emotionen hoch“.

Als Musik für den letzten Abend hat er Bob Dylan gewählt. „Mit ihm haben wir den ersten Abend bestritten. Mit ihm beschließen wir den letzten Abend“, sagt Genc.

Es sind relativ wenige Stammgäste hier. Fast alle sind deutlich unter 30. Das Publikum des Dit‘ e nat‘ ist im Lauf der Jahre immer jünger geworden. Waren es früher hauptsächlich Künstler und Journalisten, die ein Refugium vor dem nationalistischen und konservativen Klima im Kosovo suchten, sind es heute vorwiegend Schüler und Studenten, die aus ähnlichen Gründen herkommen, ebenso Aktivisten kritischer Plattformen. Und das ist eines der wenigen Lokale im ganzen Land, wo schwule und lesbische Paare willkommen sind.

Wenn man als Ausländer kritische Zeitgenossen in Prishtina besuchte, standen die Chancen hoch, dass sie einen ins Dit‘ e nat‘ brachten.

Auch wenn die Preise eher im mittleren als im unteren Segment angesiedelt sind, üben die Mitarbeiter möglichst wenig Konsumdruck auf die Gäste aus. Mit einem Getränk kannst du hier stundenlang sitzen.

FOTO: Balkan Stories

Außerdem gibt es zahlreiche Bücher als Lektüreangebot und die Tische im Hauptraum sind brauchbare Arbeitsplätze.

Hana und Ermal sind beide 24. Der Barista und die Studentin kommen hierher, seitdem sie 15 sind. „Das war immer ein Ort, wo du deine Freunde auch ganz ohne Verabredung getroffen hast“, sagen die beiden. Das Lokal sei auch ein bisschen zum Stereotypen für das alternative Prishtina geworden, sagen sie. „Dass sie zumachen, hab ich gar nicht gewusst“, sagt Hana. „Sonst hätt ich noch ein paar Leute eingeladen, damit wir eine Abschiedsparty machen“.

Auch am Vorabend haben nur wenige Gäste gewusst, dass das Lokal für immer zusperren wird. Weder Genc noch seine Mitarbeiter Ismail, Lorent, Vlera, Arian, Ermal und Olsa haben es an die große Glocke gehängt. Warum auch immer.

FOTO: Balkan Stories

Nur ein junges lesbisches Paar hat am Vorabend Wind von der bevorstehenden Schließung bekommen. Für die beiden war es eine harte Nachricht. Zwar gibt es mittlerweile ein paar mehr alternative Lokale in der Stadt, aber ob sie ihnen gegenüber auch so offen sein werden, ist für die jungen Frauen unsicher. „Ich hab keine Ahnung, wo wir jetzt hingehen sollen“, sagt eine.

„Ich hab erst heute Nachmittag um drei erfahren, dass das Dit‘ e nat‘ zusperrt“, sagt Genc Bruder und eine Träne rinnt ihm herunter. „Ich hab bis zuletzt gehofft“, dass es die Rettung gelingt.“

Genc hatte versucht, ein benachbartes Hotel als Partner ins Boot zu holen. „Das Lokal hat sich nicht mehr rentiert, und mit dem Hotel hätte es funktionieren können“, sagt er. Die potentiellen Investoren sprangen im letzten Moment ab.

Genc trinkt noch eine Loza. „Ich brauch jetzt eine Pause von der Melancholie“, sagt er und wirft vorübergehend Bob Dylan aus seinem Player. Er legt „Lipe cvatu“ von Bijelo Dugme auf und sing begeistert mit.

Von den jungen Stammgästen im lauschigen Gastgarten im Hinterhof schauen einige ganz erstaunt. Ihnen sagt die Musik überhaupt nichts. In Prishtina spielt man nach Möglichkeit keinen YU Rock offen. Auch nicht Bijelo Dugme.

„Lipe cvatu, sve je isto kô i lani, hej
Samo srce moje i srce tvoje
U ljubavi više ne stoje“

Ich stimme mit ein. Wenn schon, denn schon. Außerdem hab ich Genc in unserem Gespräch erst auf die Idee gebracht, die legendäre Band aus Sarajevo aufzulegen.

FOTO: Balkan Stories

Genc kann den Text auswendig. Ich brauche die Unterstützung meines Mobiltelefons.

Gut eine halbe Stunde spielen wir Bijelo Dugme. Genc kennt alle Texte auswendig.

Dass es finanziell immer enger wurde für das Dit‘ e nat‘ liegt an der hohen Inflation im Kosovo. Mit den Gehältern ging es sich immer schlechter aus für die Mitarbeiter des Lokals. Die Lohnerhöhungen, um die Inflation auszugleichen, hätte sich Genc nach eigenen Angaben nur leisten können, wenn er die Preise massiv erhöht hätte.

Das hätte das Lokal für viele Stammgäste unleistbar gemacht.

Vielleicht hätte er das noch riskiert. „Aber in letzter Zeit war es hart für mich, es war Zeit etwas zu verändern“.

Genc will sich wieder auf seine Haupttätigkeit konzentrieren. Er ist Singer/Songwriter. „Und vielleicht ist es da sogar gut, wenn ich nach 15 Jahren nicht mehr diese fixe Basis habe sondern Freiraum“.

Es ist noch nicht einmal zehn. Die letzte Runde wird serviert. Ein paar Stammgäste kommen erst jetzt. Als sie erfahren, was los ist, machen sie schnell Erinnerungsfotos.

Kellnerin Vlera weint. „Ich hab ab morgen einen neuen Arbeitsplatz. Daran liegt’s nicht. Aber es wird mir so fehlen. Die Kollegen und ich, das ist wie Familie, auch wenn ich erst vier Monate hier bin. Und privat bin ich praktisch hier aufgewachsen. Ich komm hierher, seitdem ich 15 bin. Das ist Teil meines Lebens“.

Einen Teil dieses Lebens wird sie mitnehmen können. Sie hat sich entschlossen, das Kätzchen zu adoptieren, das seit Kurzem der Hauskatze Gesellschaft leistet. Die Hauskatze selber wird wahrscheinlich bei Genc landen.

FOTO: Balkan Stories

Vlera und ihre Kollegen machen jeden Tisch peinlich sauber, auch die Aschenbecher werden abgewaschen. Als ob es morgen weitergehen würde.

„Ich werd das Lokal nicht verkaufen“, sagt Genc. „Die Einrichtung, ja. Aber ich will nicht, dass aus diesem Ort noch ein durchkommerzialisiertes Lokal wird. Von denen gibt es schon genug in der Stadt.“

Aus den Boxen tönt es „The Legend of Johanna“ von Bob Dylan. Es ist einer von Genc’s Lieblingssongs. Wenig überraschend singt er begeistert mit. Sein Bruder stimmt ein. Der Song ist Teil des ersten Albums, das in diesem Lokal gespielt wurde.

Die mazedonische Loza haben wir durch. Wir sind bei lokaler Šljivovica angelangt, stilecht aus der Plastikflasche. Ein letztes Stamperl. Eine letzte Zigarette.

Genc macht das Licht aus. „Ich muss heim. Morgen muss es irgendwie weitergehen“.

Als ich draußen bin, dreht er ein letztes Mal den Schlüssel des Dit‘ e nat‘ um.

Nachtrag: Nachdem dieser Beitrag das erste Mal erschien, sprachen mehrere ehemalige Stammkunden Genc darauf an. Genc entschloss sich, doch zwei Abschiedsparties im Dit‘ e nat‘ zu machen. Um das nicht zu stören, hat Balkan Stories zeitweilig offline gestellt.

Balkan Stories, Christoph Baumgarten

Christoph Baumgarten ist Journalist und Balkanreisender aus Leidenschaft. Seit 2015 verbindet er beide Leidenschaften auf seinem Blog Balkan Stories. Dort versucht er, Geschichten zu erzählen, für die es in größeren Medien meist keinen Platz gibt und stellt die Menschen in den Mittelpunkt.

Mehr von Christoph könnt ihr unter balkanstories.net nachlesen.