Eine Doku serbischer Studenten bricht gerade alle Rekorde für das Genre auf Youtube. In ihr machen sich zwei Studenten, die bei den Massenprotesten im Land aktiv sind, auf nach Ćacilend. Das ist das Camp regierungsnaher Gegendemonstranten im Pionirksi Park in Beograd.
3.000 Zuseher bei der Premiere Sonntagabend im Studentski Kulturni Center der Fakultät für Theaterwissenschaften der Uni Beograd.
Mehr als eine Million Views innerhalb der ersten 24 Stunden auf Youtube – bei einem Video, das nur in Originalsprache verfügbar ist.
Die Doku Kameleon von Studenten der FDU, die sich an den landesweiten Massenprotesten in Serbien beteiligen, trifft offenbar einen Nerv.
Kameleon kondensiert Serbiens politische Krise
Wie auch anders: Sie kondensiert die politische Krise Serbiens in einem engen Raum, lässt die Standpunkte und Strategien der Regierungspartei SNS, ihrer Sympathisanten und die der hunderttausenden Serben aufeinanderprallen, die seit Monaten für Demokratie, Rechtstaat und gegen Korruption auf die Straße gehen.
Hier, im Pionirski Park kommt zusammen, was die politische Krise im Land ausmacht.
Hier, gegenüber dem Parlament, und nahe beim Präsidentenpalast, campiert eine kleine Gruppe, die sich Studenti 2.0 nennt. Sie sagen, sie seien Studenten, die wollen, dass die Unis im Land wieder aufsperren.
Die sind seit Monaten geschlossen, seitdem die Studenten des Landes praktisch geschlossen nach dem Einsturz des Vordachs des frisch renovierten Bahnhofs in Novi Sad mit mittlerweile 16 Toten auf die Straße gingen.
Wer in Ćacilend wohnt
Ćaci nennen die Protestierenden Serbiens die Studenti 2.0, die Gegendemonstranten gegen die Massenproteste im Land. Ćacilend heißt ihr Camp im Pionirksi Park.
Nach Ćacilend begeben sich zwei Studenten der FDU Beograd, die seit dem ersten Tag auf der Blockade waren – und versuchen, die Situation im Camp darzustellen, und herauszufinden, was seine Bewohner antreibt, zugunsten der Regierungspartei SNS und Serbiens Präsident Aleksandar Vučić in Zelten zu hausen.
Dass sie beileibe nicht nur auf Studenten stoßen, ist ein wesentlicher Teil der Sache. Es ist offensichtlich, dass die Ćaci von Fußballhooligans und SNS-Sympathisanten- bzw. Funktionären unterstützt werden.
Gegenüber den Studenti 2.0 gehen die Filmemacher auch offen damit um, dass sie auf der „anderen Seite“ aktiv waren. Dennoch begegnen sie ihren Kontrahenten mit Respekt – der teilweise erwidert wird, teilweise auf Misstrauen und Feindschaft stößt.
Einmal, gegen Ende, stoßen sie auf „Sicherheitskräfte“, die ihnen den Eingang ins Camp verwehren. Die Securities sind maskiert.
Wer die Proteste in Serbien verstehen will, sollte diese Doku anschauen
Gelegentlich greifen die Macher von Kameleon auf satirische Einlagen zurück. So wird etwa eine Doku des britischen Regisseurs David Attenborough über Chamäleons im Film verwertet.
Bewusst bleibt unklar, ob die namensgebenden Chamäleons die Filmemacher sind, die sich bei aller Offenheit auch ein wenig tarnen, um hier arbeiten zu können, oder ob es die Ćaci sind, die offensichtlich als Instrument gedacht waren, um die Studentenbewegung zu spalten.
Dass der Standpunkt der FDU-Studenten die Doku prägt, ist klar.
Dennoch ist Kameleon alles andere als plumpe Agitation. Die 27 Minuten lange Doku erlaubt tiefe Einblicke in die inneren Vorgänge von Serbiens regimenaher Propaganda und den Machtapparat der SNS.
Und macht deutlich, dass bei allen Konflikten und aller Gegnerschaft das Gegenüber nicht nur ideologisierter und opportunistischer Parteisoldat ist, und dass die Unterstützung für die SNS ein komplexes und widersprüchliches Fundament hat.
Wer sich in seiner Meinung bestätigt fühlen will, wird hier sicher etwas finden.
Viel mehr richtet sich Kameleon an Menschen, die die politische Krise Serbiens verstehen wollen – und nachvollziehen wollen, wogegen die Studenten des Landes seit vier Monaten demonstrieren.
Allein das macht Kameleon zu einer sehenswerten Doku. Bedenkt man, in welch kurzer Zeit sie entstanden ist, muss man sie beeindruckend nennen.
Hoffentlich ist sie auch bald für ein weltweites Publikum mit englischen Untertiteln verfügbar.
Anmerkung der Redaktion: Dieser Beitrag spiegelt ausschließlich die Meinung des Autors wider. Nicht die Meinung der KOSMO Redaktion.
Balkan Stories, Christoph Baumgarten

Christoph Baumgarten ist Journalist und Balkanreisender aus Leidenschaft. Seit 2015 verbindet er beide Leidenschaften auf seinem Blog Balkan Stories. Dort versucht er, Geschichten zu erzählen, für die es in größeren Medien meist keinen Platz gibt und stellt die Menschen in den Mittelpunkt.
Mehr von Christoph könnt ihr unter balkanstories.net nachlesen.
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