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REPORTAGE

Blutschuld am Balkan: Wie die Nacht der Rache verlief! (2. Teil)

FOTO: Nenad Mandic

BLUTRACHE. Der Mord an einem männlichen Familienmitglied bedeutete in gewissen Regionen des Balkans jahrhundertlang nicht nur Trauer und Unglück, sondern auch die Verpflichtung, es dem Mörder und seiner Familie mit gleicher Münze zu vergelten. Das grausame Gesetz der Ehre hielt eine grausame Spirale am Leben.

Im zweiten Teil unserer Reportage berichten wir von einer wahren Geschichte, die sich am Balkan zutrug. Wer den ersten Teil noch nicht gelesen hat, kann dies anbei nachholen:

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BLUTRACHE. Der Mord an einem männlichen Familienmitglied bedeutete in gewissen Regionen des Balkans jahrhundertlang nicht nur Trauer und Unglück, sondern auch die Verpflichtung, es dem Mörder und seiner Familie mit gleicher Münze zu vergelten. Das grausame Gesetz der Ehre hielt eine grausame Spirale am Leben.

 

Die Nacht der Rache
Am 23. Januar 1989, kurz nach Mitternacht, hat Nikola Kaluđerović seinen Sohn in Sveti Stefan gerächt. Mit dem ersten Schuss aus seinem Jagdgewehr verwundete er Rajko Grdinić, und dieselbe Patrone verwundete zufällig auch Dragan Šofranac. Der zweite Schuss beendete alles.
„An diesem Januarabend habe ich stundenlang vor einem Café in Sveti Stefan gewartet. Es war eiskalt, aber ich habe nichts gespürt außer dem Wunsch, alles endgültig zu beenden. Grdinić ist mit einem anderen Burschen herausgekommen und zum Auto gegangen. Ich habe ihn bei seinem Spitznamen gerufen, und als er zum Vorderteil seines Autos gelaufen ist, habe ich mit meinem Gewehr geschossen und ihn verwundet. Das Unglück war, dass diese selbe Kugel auch Dragan Šofranac an der Hüfte getroffen hat. Ich bin noch ein paar Schritte weitergegangen, um noch einmal zu schießen, aber mein Gewehr hat geklemmt. Ich habe versucht, die Patrone herauszubekommen, aber Grdinić stand, obwohl er verwundet war, auf und kam auf mich zu. Ich ergriff das Gewehr am breiteren Ende und er am schmalen, und er begann, mich zurückzudrängen.

RACHE. Freunde und Verwandte hielten es für eine Ehrenpflicht.

Er sagte: „Du bist fertig, zum Teufel!“ Ich dachte, dass ich tatsächlich geliefert war, und es tat mir leid, dass ich der Familie Scham und Schande hinterlassen würde, denn ich hatte meine Pflicht nicht erfüllt, mein Kind zu rächen. Er war jung und kräftig und hätte mich töten können und hätte dafür keinen Tag abgesessen, denn es hätte als Notwehr gegolten. Glauben Sie mir, ich hatte auch eine Repetierpistole am Gürtel, aber in dieser Aufregung hatte ich das ganz vergessen. Ich schaffte es dann, ihn zurückzustoßen, den Lauf freizubekommen und zu schießen. Als Grdinić fiel, lief ich sofort zu dem Burschen, den ich verwundet hatte, um zu sehen, wie es ihm ging. Inzwischen waren Leute aus dem Café gekommen und ich bat sie, die Rettung und die Polizei zu rufen. Meine Familie und meine Freunde blieben die ganze Zeit vor dem Krankenhaus, in dem Šofranac lag, und spendeten Blut. Wir alle hofften, dass er gesund würde. Er hatte seinen Eltern alles erzählt, was an dem Abend passiert war, bat sie, mich nicht für seine Verwundung verantwortlich zu machen, denn die war Zufall. Erst ging es ihm gut, aber dann bekam er im Krankenhaus eine Sepsis und starb etwa zwanzig Tage später. Darüber werde ich niemals hinwegkommen“, erzählt Kaluđerović mit leiser Stimme.

Der Prozess in Podgorica wegen zweifachen Mordes aus skrupelloser Rache, wie es der Ankläger bezeichnete, weckte in der Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit und wurde sogar im Fernsehen übertragen. Nikola sagte vor dem Schwurgericht, dass am Tod seines Sohnes das Gemeindesekretariat für Inneres, das Gericht und das unmögliche Staatssystem schuld seien, die ihre Aufgabe nicht erfüllt hätten. „Wenn die Mörder zur Verantwortung gezogen worden wären und für die Straftaten, die sie begangen haben, jahrelang hinter Gittern gesessen hätten, wäre mein Kind noch lebendig und ich hätte keine blutigen Hände. Vom Gericht fordere ich, dass es das Urteil ausschließlich im Namen des Gesetzes fällt und nicht im Namen des Volkes, das wusste, was meine Frau und ich erdulden mussten, seitdem uns Banditen unser einziges Kind getötet hatten. Wissen Sie, dass mehr als 200.000 Menschen aus ganz Jugoslawien eine Petition unterschrieben haben, in der sie vom Gericht für mich einen Freispruch forderten? Ich wurde zu 20 Jahren verurteilt, das Oberste Gericht kürzte die Strafe auf 15 Jahre und ich kam nach nicht ganz neun Jahren frei, denn ich wurde begnadigt. Jedes Jahr führten sie mich an Željkos Todestag aus dem Gefängnis auf den Friedhof. Manchmal kamen 4000 – 5000 Menschen, was in unserer Stadt aber in Vergessenheit geraten ist.

Ein Brunnen als Denkmal
Die Kaluđerovićs gehen jeden Tag auf den Friedhof, obwohl ihr Alter ihnen zu schaffen macht und Nikola schon vier Schlaganfälle hatte. Als Erinnerung an ihren allzu früh verstorbenen Sohn und im Wunsch, den Cetinjern zu danken, errichteten sie auf dem neuen Friedhof einen Erinnerungsbrunnen und gestalteten den Platz um ihn herum. „Das ist das letzte, was wir tun konnten, statt ihn zu verheiraten und Enkel zu bekommen. Cetinje wird unser Kind nicht vergessen. Wenn ich heute nüchtern über alles nachdenke, scheint mir, dass ich nicht aus Rache getötet hätte, aber ich konnte die Misshandlungen und Provokationen von Rajko Grdinić nicht mehr ertragen. Alles, was ich getan habe, hat meine schreckliche Trauer um mein Kind nicht gemildert. Aber ich bin mit mir selbst und meinem Volk im Reinen. Ich bin vor meiner Verantwortung und der Schuld nie davongelaufen. Mit erhobenem Kopf trage ich meine Last all die Jahre lang, und die ist nicht gering. Wenn der Staat seine Aufgabe erfüllt hätte, wenn das Übel mit der Wurzel ausgerottet worden wäre, hätte es keinen Mord gegeben und auch keine Rache“, betont Nikola Kaluđerović. Über sein tragisches Schicksal hat der Regisseur Zdravko Velimirović den bewegenden Dokumentarfilm „Söhne“ gedreht.

Kaluđerović: „Die Provokationen brachten mich in eine schwierige moralische und physische Situation. Als ich mich zur Rache entschlossen hatte, hätte ihn niemand mehr retten können. (FOTO: Nenad Mandic)

„Jahre vergehen, aber ein Tag niemals“
Mit Nikola Kaluđerović teilte der Schauspieler Žarko Laušević, der in einem unbedachten Moment zum zweifachen Mörder geworden war, viereinhalb Jahre lang die Gefängnistage.
„Žaro kam 1993 in meine Zelle. Er war in einem schrecklichen Zustand und den ersten Monat lang konnte ich fast nicht schlafen, denn er zerriss Laken in der Absicht, sich zu erhängen. Ich schützte und beriet ihn und so entwickelten wir eine besondere Beziehung, obwohl ich ihm immer wieder sagte, dass er eine große Dummheit begangen hatte. Der Name seines Buches „Jahre vergehen, aber ein Tag niemals“, das sind eigentlich meine Worte, die ich einmal sagte und die er sich aufgeschrieben hatte. Alle sagen, dass er ein hervorragender Schauspieler ist, aber ich behaupte, dass er als Autor noch besser ist. Im Gefängnis schrieb er für die Leute bessere Gesuche und Beschwerden als jeder Rechtsanwalt. Ich wurde aufgrund eines Antrags begnadigt, den er mir mit der Hand auf 46 Seiten geschrieben hatte“, erzählt Kaluđerović von seinem Leidensgenossen aus dem Gefängnis und zeigt uns an der Wand ein Porträt seines Sohnes, das Laušević nach einem Foto gemalt hat.

Erinnerungen an den Bruder
„Mein Bruder Petar hat 1972 Periša Popović, einen unschuldigen Mann, skrupellos und willkürlich getötet. Das hätte er nicht tun dürfen, denn man tötet niemanden aufgrund eines wütenden Wortes oder eines Streits. Der Vater des Getöteten versuchte, seinen Sohn zu rächen, aber es gelang ihm nicht. Aber Jovan Popović, der Bruder des getöteten Periša, rächte seinen Bruder 1996 in Cetinje, indem er meinen tötete. Die Rache wurde also 24 Jahre später vollzogen. Meine Familie hat seine nicht verurteilt und mich hat man zur Beerdigung aus dem Gefängnis gebracht. Der Brauch erforderte es, dass ich einige Worte an die Menschen richtete, darum sagte ich, dass ich wünschte, dass dies die letzte Blutrache in Montenegro sein sollte, und dass ich glücklich wäre, wenn es nirgendwo und niemals wieder eine Blutrache geben würde, dass es aber auch keinen Grund für die Blutrache geben sollte. Ich sagte, dass der Mord an meinem Bruder für die lebenden und glücklichen Montenegriner eine große Lektion und Mahnung sein sollte, dass solche Schulden auch nach vielen Jahren nicht vergessen werden. Ich bat damals am Sarg meines toten Bruders alles Montenegriner, ihre Waffen niederzulegen.“ Der letzte Fall von Blutrache ereignete sich in Montenegro 2005 in Cetinje. Drago Kaluđerović (64) erschoss Rajko Marković (36) mit derselben automatischen Waffe, die 14 Jahre zuvor seinen Sohn Žarko (24) getötet hatte. Anschließend tötete er sich selbst mit einem Schuss in den Kopf.

Zur Erinnerung an den verlorenen Sohn und im Wunsch, den Cetinjern Dank zu erweisen, haben sie auf dem Neuen Friedhof einen Gedenkbrunnen errichtet und den Platz um ihn herum schön gestaltet. (FOTO: Nenad Mandic)

Anđa, eine Frau und doch ein ganzer Mann
Der Schmerz einer Mutter, die mit leeren Händen dasteht, ist schwer zu ermessen. Montenegrinerinnen, standhafte, feste Frauen, sind es gewöhnt, weder Schwäche noch Kummer zu zeigen. So ist auch Anđa Kaluđerović, die ihren Mann darin unterstützt hat, ihr Kind zu rächen.

„Ich bin vor Kummer krank geworden, aber ich habe Nikola nicht verurteilt, weil er Grdinić getötet hat. Ich habe nur den armen Šofranac bedauert. Als uns dieses Unglück passiert ist, hat mein Mann gesagt, dass noch Leute zu uns kommen werden, aber wenn sie uns immer mit verweinten Augen antreffen, werden sie uns ihre Haustüren bald nicht mehr öffnen. Wir haben verabredet, dass wir unser Leid mit Würde tragen, dass wir unser Leben weiterführen, obwohl wir wussten, dass es niemals leicht sein wird. Und jetzt leben wir schon 30 Jahre seit diesem unglücklichen 24. August 1987, als unser Haus auf den Kopf gestellt wurde“, erzählt die Mutter, während sie mit der Hand über das Bild auf dem Grab des Sohnes streicht.

ANĐA KALUĐEROVIĆ. Die Montenegrinerin, standhaft und fest, hat gelernt, keine Schwäche und keinen Kummer zu zeigen. Sie hat ihren Mann in seinem Vorhaben unterstützt, ihr Kind zu rächen. (FOTO: Nenad Mandic)
Vera Marjnaovic
Meine Berufung zur Journalistin entdeckte ich bereits als Sechzehnjährige während meiner Gymnasialzeit in Montenegro. Diesem Berufszweig bin ich seither treu geblieben. Nach meiner Ankunft in Wien widmete ich mich der Arbeit mit Mitgliedern der BKS-Gemeinschaft, wodurch ich tiefgreifende Einblicke in die Lebensgeschichten und sowohl die Triumphe als auch die Herausforderungen verschiedener Generationen gewann. Diese vielfältige Palette an Persönlichkeiten prägte meinen journalistischen Weg und festigte mein Engagement für soziale Themen.