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REPORTAGE

„Ein Gruß aus meinem Fenster“: Diese Facebook-Gruppe kämpfte gegen Depression während des Lockdowns

Alma Tihić (FOTO: zVg.)

Alma Tihić, Magistra der Gesellschaftswissenschaften im Bereich der Psychologie und klinische Gestalttherapeutin

KOSMO: Ältere Menschen leiden auf mehrere Arten unter der Isolation. Welches sind die schlimmsten psychischen Folgen und wie kann man sich davor schützen?
Alma Tihić: Zuerst möchte ich betonen, dass alle, vor allem ältere Menschen, verstärkten Gefühlen der Bedrückung, Anspannung, Unruhe, Hilflosigkeit, Angst usw. ausgesetzt waren. All diese Gefühle sind in der Corona-Zeit, in der wir leben, ganz normal und müssen akzeptiert werden. Zu Beginn spürten wir alle akuten Stress, aber das war nicht das größte Problem. Ernstere Probleme können erst jetzt entstehen, wenn die Situation noch lange andauert und wenn es zu einem weiteren Lockdown kommt, der zur Entwicklung von chronischem Stress führen kann, dessen Überwindung etwas schwerer ist. Und das dürfen wir nicht zulassen. Mein Rat ist vor allem, dass wir uns nicht vor Gefühlen und Situationen fürchten sollten, die noch gar nicht eingetreten sind. Wir wissen nicht, wie die nächste Zeit in unserem Leben aussehen wird. Wir müssen am gegenwärtigen Tag funktionieren, unter den herrschenden Umständen, und dürfen keine irrealen Ängste entwickeln. Wir müssen uns unserer Gefühle nicht schämen. Wir sollten den Menschen um uns herum gestehen, dass es uns nicht gut geht, dass wir Rat brauchen. Wenn nötig, sollte man auch die Hilfe eines Fachmanns in Anspruch nehmen.

Corona hat das Aufwachsen der Kinder gestört. Was sollten Eltern tun, damit bei den Kindern kein Trauma zurückbleibt?
Man muss den Kindern genau erklären, was da passiert, und ihnen keine falsche Hoffnung machen, wir wüssten, wann diese Situation vorbei ist, und wir dürfen auch nichts versprechen, was wir nicht halten können. Das wichtigste ist, dass die Eltern die Situation etwas entschleunigen. Wir sind zu schnell in all das hineingeraten. An einem einzigen Tag wurde das gesamte Leben der Kinder in die virtuelle Welt verlegt, und jetzt, einige Monate später, versuchen wir, das Leben wieder in seine gewohnten Bahnen zurückzulenken. Eltern und Kinder versuchen alles aufzuholen und normal zu funktionieren, aber das ist nicht möglich. Man muss den Umständen entsprechend funktionieren. Für Kinder ist sozialer Kontakt wichtig und es ist gut, dass der jetzt stattfindet. Masken und körperliche Distanz sind die Regeln, unter denen der soziale Kontakt stattfindet, und die müssen wir so auch anerkennen. Man muss den Schulbesuch der Kinder und die Kontaktpflege mit den Altersgenossen fördern, aber ihnen die Regeln beibringen, die sie einhalten müssen. Es ist sehr wichtig, den Tag der Kinder zu strukturieren, Zeiten zum Lernen, fürs Training, und für Hobbys festzulegen und unbedingt Zeit zum Spielen einzuplanen, und wenn es auch elektronische Spiele sind. Diese Zeit muss beschränkt sein, aber sie muss den Kindern gestattet werden.

Haben die Gesichtsmasken und das social distancing eine Wirkung, die die Persönlichkeitsstruktur verändert?
Das Maskentragen und die soziale Distanz sind im Moment Verhaltensregeln. Wir haben schon bisher in unserem Leben viele Regeln akzeptiert und uns daran gehalten, und so muss es auch mit diesen sein. Menschen, die verantwortungsvoll sind und deren Anpassungsfähigkeit an neue Verhältnisse gut entwickelt ist, werden auch mit diesen und noch weiteren Regeln keine großen Probleme haben. Menschen, die sich mit der Annahme neuer Regeln und Normen schwertun, werden in dieser Zeit noch mehr Schwierigkeiten haben, was ihre psychische Gesundheit beeinträchtigen kann. Daher ist die Annahme neuer Regeln von der Persönlichkeitsstruktur abhängig und von unserer Beziehung und unserem Verantwortungsgefühl für uns selber und die Menschen um uns herum.