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KRIEGSLEIDEN

Erinnerungen eines Burschen aus der „Kozara“ Kolonne

„Ich war von der Sonne gebräunt, nur noch Haut und Knochen, darum haben mich meine Mama und mein Bruder nicht erkannt. Aber ich habe ihnen gesagt, wann ich geboren war und wer meine Eltern waren.“ (FOTO: KOSMO)

Die Partisanen kamen
Viele Kinder sind dort gestorben. Jeden Morgen haben sie die Decken eingesammelt und die Kinder weggebracht, die nicht mehr aufgewacht waren. Eines Morgens – ich glaube, es war August – habe auch ich angefangen, irre zu reden, und eine der Schwestern brachte mich in die Ambulanzbaracke. Sie gab mir eine Tablette und Tee und dann schlief ich ein. Am nächsten Morgen weckten mich komische Geräusche. Etwas explodierte und krachte. Ich öffnete die Augen und sah, dass keine Ordensschwestern da waren, alle waren davongerannt, außer den Kindern. Kurz darauf sah ich, dass die Partisanen gekommen waren. Sie sammelten uns alle ein und brachten uns in den Wald. Hungrig, wie wir waren, marschierten wir den ganzen Tag, und dann kamen wir zu einem Feld mit jungem Mais. Schon nach wenigen Minuten war der ganze Mais verschwunden, denn wir hatten ihn gegessen.

Bei Einbruch der Dunkelheit machten wir Halt. Wir waren wieder hungrig, aber die Partisanen hatten nichts, das sie uns geben konnten außer einer Kiste Zucker, und sie gaben uns jedem ein paar Würfel. Spät am Abend ließen sie uns antreten und sagten, dass die Stärkeren, die marschieren konnten, eine eigene Kolonne bilden sollten. Als ich sah, dass mein älterer Bruder vortrat, bin auch ich mutig hinterhergegangen. Ein Partisan sagte mir jedoch, dass ich zurückgehen sollte, denn ich sei noch klein und könnte einen so langen Marsch nicht durchhalten. Eine lange Kolonne an Kindern marschierte mit den Partisanen davon. Einige blieben bis zum Kriegsende bei ihnen, einige starben auf dem langen Weg. Meinen älteren Bruder nahmen die Ustaša noch einmal gefangen und gaben ihn zu Bauern bei Virovitica, damit er in ihrem Haus arbeiten sollte. Etwa dreißig von uns ließen sie alleine im Wald zurück. Mein jüngerer Bruder und ich nahmen uns in den Arm und schliefen so auf dem Boden. Als es hell wurde, begannen wir, durch den Wald zu irren und nach etwas Essbarem zu suchen. Wir waren wie kleine, hilflose Tierchen. Irgendwann am späten Nachmittag kündigte eine Hupe das Herannahen von LKWs an. Es waren Ustaša.

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Sie luden uns alle auf und brachten uns nach Jastrebarsko zurück. Dort schlugen sie uns mit den Worten: „Du wolltest zu den Partisanen, ja?“ Sie prügelten uns so, dass wir zuerst mit den Köpfen am Boden aufschlugen statt mit dem Hintern. Sie brachten uns in einen Keller, gaben uns verdorbene Milch zum Trinken und misshandelten uns. Nach kurzer Zeit wurden wir wieder von Schwestern übernommen, die uns in die Kirchen führten, wo sie uns den katholischen Glauben lehrten. Einmal fiel ein Bub bei der Rückkehr von einem solchen Ausflug zu Boden und schrie laut vor Schmerzen. Kurze Zeit später passierte mir dasselbe. Die Bauchschmerzen waren unerträglich, ich hatte das Gefühl, dass irgendetwas Schreckliches in meinem Bauch mahlte.

Ich überlebte nur knapp
Noch heute verstehe ich nicht, warum für uns beide Rettungswagen aus Zagreb kamen und uns ins Krankenhaus für Infektionskrankheiten in die Mirogojska Cesta brachten. In unserem Zimmer waren etwa zehn Burschen, und ich bemerkte, dass sie jeden von uns anders behandelten. Wenn ich das alles heute analysiere, glaube ich, dass es da um Experimente ging, und ich hatte das Glück, einem alten Doktor in die Hände zu fallen. Er untersuchte mich und sagte, dass ich nur viermal am Tag drei kleine Äpfel essen dürfte. Mein Bauch war stark geschwollen, ich hatte gleichzeitig eine Nierenentzündung, Typhus und eine große Schwellung einer Drüse unterhalb der Achsel, die sie mir bei vollem Bewusstsein herausoperierten. Sie gaben mir keine einzige Tablette oder Spritze. Ich überlebte einen Ort, an dem Kinder massenweise starben.

Minister Turković zeigte Menschlichkeit, was ihm später im Gerichtsverfahren half.

Ein oder zwei Monate später brachten sie einen anderen Buben und mich in das Institut für Taubstumme in der Ilica. Dort gab es etwa hundert Kinder aus der Kozara, und uns beide brachten sie in einem Zimmer unter und sagten uns, dass wir uns von dort nicht fortbewegen sollten. Vielleicht hatten sie uns vergessen, auf jeden Fall warteten wir zwei Tage ohne Essen. Wir waren folgsam, denn wir hatten genug Prügel bekommen und die Furcht war noch größer als der schreckliche Hunger. Aber irgendwann siegte doch der Selbsterhaltungstrieb. Wir gingen die Treppe hinunter und erblickten einen großen Saal mit vielen Kindern, unter die wir uns unbemerkt mischen konnten. Da es Abendessenszeit war, erhielten wir einen Teller Bohnensuppe und ein Stück Brot. Wir kehrten in das Zimmer zurück, in dem wir noch einen weiteren Tag verbrachten, und dann ging ich wieder zu den Kindern. Als ich nach oben zurückkehrte, fand ich meinen kleinen Kameraden tot vor. So ausgehungert und erschöpft, hatte ihn das Essen, das er gegessen hatte, das Leben gekostet. Dieses Bild habe ich niemals vergessen.

MIT DEN ELTERN. „Mit dem Ende des Krieges kehrten wir nach Bosnien zurück, wo wir endlich unsere unterbrochenen Leben wiederaufnehmen konnten, allerdings ohne unsere Schwester Stevka, über deren Verlust wir nie hinweggekommen sind.“ (FOTO: zVg.)

Große Veränderungen
In diesem Winter kam es zu einer Wende. Es kamen Bauern, um Kinder abzuholen: einige als Hilfskräfte auf den Höfen, andere als Adoptivkinder. Sie achteten nur darauf, gesunde Kinder ohne Ausschläge und andere sichtbare Krankheiten zu nehmen. Ich drängte mich vor, bat sie, mich zu nehmen, denn ich war gerade aus dem Krankenhaus entlassen. Die Bauern nahmen mich nicht, aber ich kam zu einer Gruppe von fünfzehn Kindern, die Entsandte von Slavko Turković mitnahmen, dem Handelsminister in der Regierung des Unabhängigen Staates Kroatien, dem NDH. Sie brachten uns in das Dorf Borčec oberhalb von Zagreb, wo wir wohnten, und zehn von uns gingen in Stenjevec in die Schule. Ich war in allen drei Klassen, die ich dort besuchte, der beste Schüler. Dort gab es auch eine Kirche, in die wir täglich gingen und wo wir, natürlich nach katholischem Ritus, beten mussten. Einmal, an einem hohen Feiertag, leitete Stepinac die Messe. Ich erinnere mich an seinen Anblick, als wäre es gestern.

Das Haus, in dem wir wohnten, war ordentlich und solide eingerichtet. Wir hatten sogar Pferd und Wagen für den Fall, dass eines der Kinder irgendwohin gebracht werden musste. Ein Problem waren allerdings die Frauen, die auf uns aufpassen sollten. Sie nahmen das Essen, das für uns bestimmt war, und wir bekamen nur Abfälle. Wie es uns ging, das zeigt auch die Tatsache, dass ich in den drei Jahren nur um drei Zentimeter gewachsen bin. Minister Turković kam zu Besuch und fragte immer, ob es uns gut ging, und wir antworteten, dass alles in Ordnung sei. Das mussten wir, denn ansonsten hätten uns diese üblen Frauen den Teufel aus dem Leib geprügelt. Ich erinnere mich an Apfelbäume, die sich vor lauter Früchten bis zum Boden bogen, aber wir, hungrig wie wir waren, durften auch nicht einen einzigen nehmen, denn sie hätten uns dafür verprügelt. Unter diesen höllischen Frauen gab es auch eine gute – ich glaube, sie war Slowenin -, die wir alle Mama nannten. Wir waren klein und hungrig nach Liebe, und sie spürte das und sorgte hingebungsvoll für uns. Manchmal nahm sie uns in den Arm und streichelte uns. Auch Minister Turković hatte eine menschliche Einstellung zu uns. Er war ein kluger Mann, der wusste, dass der NDH nicht überleben würde, und indem er für uns sorgte, zeigte er Menschlichkeit, was ihm später vor Gericht geholfen hat.

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