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REPORTAGE

Warum kehren „unsere” Migranten auf den Balkan zurück?

„Migration ist in der EU überhaupt kein alltägliches Phänomen, wie es oft dargestellt wird, sondern sie tritt ausschließlich in Gesellschaften mit ernsthaften Problemen auf”, sagt Tado Jurić, Demograph an der Katholischen Universität Zagreb und fügt hinzu, dass Perspektivenlosigkeit im Heimatland junge Menschen vertreibt. (FOTO: zVg.)

Migration — eine Indikator für größere Probleme
In den letzten Jahren hat Kroatien 370.000 Bürger verloren. Ganze Familien haben das Land auf der Suche nach einem besseren Leben verlassen, aber vor allem sind es junge Kroaten zwischen 20 und 35 Jahren, die ihre Koffer packen – also Angehörige der Gruppe, die der produktivste Teil der Gesellschaft sein sollte. Die Abwanderung junger, neuerer Generationen zeugt nicht nur von Ambitionen und dem Wunsch nach einem besseren Leben, sondern auch von tieferen und größeren Problemen.

Vom Balkan sind so viele Menschen weggezogen, wie ungefähr heute in Kroatien leben.

„Abwanderung weist immer auf ein tieferliegendes gesellschaftliches Problem hin. Migration ist in der EU überhaupt kein alltägliches Phänomen, wie es oft dargestellt wird, sondern sie tritt ausschließlich in Gesellschaften mit ernsthaften Problemen auf. Während nur 1 % der Arbeitskräfte aus Deutschland und Großbritannien auswandert, sind es in Kroatien 18 %. Damit deutet Migration immer auf bevorstehende noch größere Probleme hin”, sagt Tado Jurić, Demograph an der Katholischen Universität Zagreb.

„Korruption und Vetternwirtschaft haben der kroatischen nationalen Identität mehr Schaden zugefügt als der Wirtschaft. Die Folge von Korruption und Nepotismus ist das Verschwinden des Gemeinschaftsgefühls und der Solidarität, die die Basis der Gesellschaft sein sollten. Die politischen Parteien haben die Bürger zu ihren Klienten gemacht, und jetzt schützen die Klienten diese Parteien, die eher Unternehmen sind als das, was sie eigentlich sein sollten, Vertreter des Volkes.”

Jurić betont, dass die Kroaten vor allem nach Deutschland, Irland und Österreich auswandern, aber auch in andere Länder der EU. „Wahrscheinlich ist der Hauptgrund dafür die Tatsache, dass dort bereits große kroatische Gastarbeitergemeinschaften bestehen und dass der deutsche Markt die Kroaten als gute Arbeitskräfte schätzt. Aber es gibt noch einen anderen Grund. Europa ist der einzige Kontinent, der einen Rückgang der eigenen einheimischen Population verzeichnet. Die Europäer haben sich auf die Schaffung von Dingen statt auf die Schaffung von Menschen fokussiert, und daher fehlen ihnen heute die Menschen, die ihre Dinge schaffen und konsumieren können.”

Dass Kroatien, ebenso wie fast alle anderen Balkanstaaten, ein Problem mit der massiven Migration der Bevölkerung hat, weiß auch die Regierung und bietet daher Rückkehrern finanzielle Subventionen an. Rückkehrer aus der EU, die in Kroatien eine eigene Firma gründen wollen, können neben einer Selbständigkeitsförderung von 150.000 Kuna zusätzliche 50.000 Kuna für die Rückkehr erhalten.

Auch wenn Politiker in den letzten Jahren, vor allem während der Pandemie, häufig davon sprachen, dass die emigrierte Bevölkerung wieder auf den Balkan zurückkehre, betont Jurić, dass das noch immer ein sehr seltenes Phänomen ist.
„Nur 15 % denken kurz- oder mittelfristig über eine Rückkehr nach. 45 % erwägen eine eventuelle Rückkehr in der Pension. Das zeigen Studien zur kroatischen Migration. Für 40 % der Befragten kommt eine Rückkehr in keinem Fall in Frage. Es stimmt jedoch auch, dass es nicht allen gelingt, sich in Deutschland ein zufriedenstellendes Leben aufzubauen, und dass diese Menschen zurückkehren. Jeder Auswanderer ist von der Hoffnung auf ein besseres Leben motiviert. Aber Wunsch und Wirklichkeit sind nicht immer dasselbe. Für einen kleineren Teil der Emigranten erweist sich die Migration als Enttäuschung und führt zu einem großen Lebenstrauma”, erklärt Jurić und fügt hinzu, dass in der kroatischen Gesellschaft noch weitere beunruhigende Tendenzen bestehen, die die nationale Identität der Auswanderer betreffen. „Immer weniger der neueren Migranten besucht im Ausland einen Kroatischunterricht. Das Gefühl für die Wichtigkeit der Muttersprache scheint in der Diaspora zu schwinden. Nur 8 % der Eltern erklärten, dass sie die Kinder in Deutschland für ein kroatisches Unterrichtsprogramm angemeldet hätten.“

Für einen kleineren Teil der Emigranten erweist sich die Migration als Enttäuschung und führt zu einem großen Lebenstrauma.

Tado Jurić

Alle verfügbaren Daten weisen darauf hin, dass die Abwanderung aus den Ländern des westlichen Balkans anhält.
„Bis zur Mitte des Jahrhunderts ist ein weiterer Rückgang der einheimischen Populationen zu erwarten, aber auch ein schneller Anstieg der Ausländerzahlen. Das demographische und wirtschaftliche Ungleichgewicht zwischen dem Zentrum der EU und ihrer Peripherie führt bei vielen Völkern innerhalb der EU zu einer Unzufriedenheit und zur Schwächung der Gemeinschaftsidee. Statt der erwarteten Konvergenzprozesse, die in dem politischen Stil, an den wir uns hier bereits gewöhnt haben, versprochen werden, aber nie eintreten, kommt es in Wahrheit zu einer Subventionierung der reichen Länder durch die ärmeren Länder der EU”, schließt Jurić.

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Nachdem sie ihr Bachelorstudium an der Fakultät für Politikwissenschaften in Belgrad abgeschlossen hat, begann Aleksandra ihre journalistische Karriere bei der Tagespresse in Serbien, wo sie bis zu ihrem Master-Abschluss gearbeitet hat. Letztes Jahr verschlug es die wissbegierige Serbin schließlich nach Wien. Jetzt lebt sie ihre Leidenschaft für Journalismus als Redakteurin des KOSMO-Magazins aus. Stets professionell und mit viel Interesse, berichtet sie über aktuelle politische und gesellschaftliche Themen. In ihrer Freizeit liest die Politologin am liebsten ein Buch, oder entdeckt auf ihrem Fahrrad neue Orte in Wien.