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SFRJ

Was ist von Jugoslawien geblieben?

(FOTO: zVg.)

Sechs* unabhängige, souveräne Staaten, vier Kriege, ca. vier Millionen Einwohner weniger, ein dreißigjähriger Kampf gegen die Folgen von Kriegsverbrechen, der Versuch der Transformation einer Autokratie und jahrzehntelanger Hegemonialmacht in eine Demokratie, der unerfüllte Traum vom „Weg nach Europa”, ein niedriger Lebensstandard und um das Zehnfache höhere Staatsschulden als je zuvor – das ist in aller Kürze die Bilanz des zehnjährigen Bestehens der neuen Balkanstaaten und des Zerfalls der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (1991).

*Der siebte Staat ist die selbsterklärte Republik Kosovo, deren Selbständigkeit von Serbien bis heute 98 von 193 (51 %) Mitgliedsstaaten der UN, 22 von 27 (81 %) EU-Mitglieder und 26 von 30 (87 %) NATO-Mitglieder anerkannt haben.

KOSMO hat untersucht, was von Jugoslawien geblieben ist, in welchem Zustand sich die neuen Staaten heute befinden und was sie durch den Austritt aus der Föderation gewonnen haben. Der Zusammenschluss und das Zusammenleben der Südslawen, die Idee, auf der die Fundamente des Zweiten Jugoslawiens errichtet wurden, das 45 Jahre lang im Balkanraum Bestand hatte. Ein Staat, in dem es, wie es manche seiner Einwohner gerne formulieren, genug Geld gab, um in den Sommer- und in den Winterurlaub zu fahren, sich zu kleiden, zu essen, zu trinken und gut zu leben, und der alles in allem vernünftig funktioniert hat.

Aber nach einigen Jahrzehnten des Zusammenlebens wurde aufgrund der Demokratisierung der osteuropäischen Länder die Notwendigkeit einer Veränderung des politischen Systems auch in Jugoslawien immer größer, was zu Unstimmigkeiten zwischen den einzelnen Mitgliedern führte: Einige forderten klar und deutlich mehr Unabhängigkeit und einen Ausstieg aus der Föderation ein, während andere dies nicht akzeptieren wollten. 1991 wurde die Geschichte Jugoslawiens offiziell beendet. Die folgenden Jahrzehnte waren von Kämpfen um die Grenzen und von furchtbaren kriegerischen Konflikten mit großen ökonomischen und unabsehbaren gesellschaftlichen Folgen geprägt. Ab dann mussten die neuen Staaten jeder für sich ein Regierungssystem etablieren und wiederaufbauen, welches der Krieg zerstört hatte.

Džihić betont, dass die meisten Länder ihre definierten Ziele nicht erreicht haben. (FOTO: zVg.)

Anfangs herrschte die Erwartung, dass es mit den unabhängigen Staaten zu einer Demokratisierung, zu sozialer Öffnung und einem Fortschritt im politischen und wirtschaftlichen Sinne kommen würde, aber das war nicht der Fall. „In den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, während des Zerfalls Jugoslawiens, herrschte die Erwartung, dass Demokratie und Marktwirtschaft weltweit auf dem Vormarsch seien und dass es für alle Länder einen geraden Weg zu dem einen Endziel gäbe: zu einer demokratischen Gesellschaft nach westlichem Muster bzw. zur Marktwirtschaft und zum Sozialstaat nach dem Beispiel des Westens. Das waren der Ausgangspunkt und der erwartete Weg, den die Staaten ex-Jugoslawiens gehen sollten. Die Kriegshandlungen bildeten jedoch eine Anomalie, die die neu entstandenen Staaten vom Weg des Fortschritts, den die anderen Länder Osteuropas eingeschlagen hatten, abbrachten. Und so ist das politische Ergebnis auf dem Balkan ziemlich divers”, sagt Vedran Džihić, Professor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien, gegenüber KOSMO.

Wie Džihić betont, haben sich diese Erwartungen für Slowenien und in gewissem Grade auch für Kroatien erfüllt, denn diese Länder sind heute demokratischer und offener, als sie es in der Zeit der SFRJ waren. „Auf der anderen Seite befinden sich andere Gesellschaften politisch in Situationen, die man als weniger frei beschreiben kann, als es in den achtziger Jahren der Fall war. Serbien zeigt unter dem Regime Aleksandar Vučićs Elemente des autoritären Regimes der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, was auch in Bosnien-Herzegowina bis zu einem gewissen Grade der Fall ist. In Nordmazedonien ist es zu einem Regierungswechsel gekommen und es haben einige intensivere demokratische Veränderungen eingesetzt, und ähnlich ist es in Montenegro, wo wir erst sehen werden, wie sich die Situation unter der neuen regierenden Koalition entwickeln wird”, erklärt Džihić.

Mehr über die traurige Bilanz nach dem Zerfall Jugoslawiens lest ihr auf der nächsten Seite!

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Nachdem sie ihr Bachelorstudium an der Fakultät für Politikwissenschaften in Belgrad abgeschlossen hat, begann Aleksandra ihre journalistische Karriere bei der Tagespresse in Serbien, wo sie bis zu ihrem Master-Abschluss gearbeitet hat. Letztes Jahr verschlug es die wissbegierige Serbin schließlich nach Wien. Jetzt lebt sie ihre Leidenschaft für Journalismus als Redakteurin des KOSMO-Magazins aus. Stets professionell und mit viel Interesse, berichtet sie über aktuelle politische und gesellschaftliche Themen. In ihrer Freizeit liest die Politologin am liebsten ein Buch, oder entdeckt auf ihrem Fahrrad neue Orte in Wien.