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GESCHICHTE

Balkan Stories: Der Frühling nach dem langen Winter

Für nächste Woche hat die Regierungspartei SNS eine Massenveranstaltung mit ihren Anhängern in Beograd angekündigt.

Vučić spricht von der größten Veranstaltung der serbischen Geschichte.

Es ist in Serbien ein offenes Geheimnis, dass auf viele öffentlich Bedienstete Druck ausgeübt wird, der SNS beizutreten und ihre Loyalität unter Beweis zu stellen – unter anderem mit einer Teilnahme an einer Demonstration, die Regierung für sich selbst organisiert.

Das Ende eines langen serbischen Winters

Der Demonstrationszug gegen das Regime hat längst die Gazela-Brücke erreicht.

Die Autobahnbrücke ist eine wichtige Verbindung zwischen dem Stadtzentrum und Novi Beograd jenseits der Sava.

Friedlich strömt die Masse über die Brücke.

Am anderen Ende, beim Sava Zentrum, soll sich die Demonstration auflösen.

Erste Meldungen über die Teilnehmeranzahl machen die Runde.

„100.000, 150.000 Menschen“ sagt ein Teilnehmer.

(Foto: Balkan Stories)

„Das ist mehr als beim vergangenen Mal“, sagt ein junger Mann, der ihn begleitet.

„Mehr als 200.000, das hat mir gerade ein Ordner gesagt“, wirft ein anderer ein.

Welche Zahl stimmt, lässt sich kaum eruieren.

Die Masse ist so groß, dass sie sich kaum mehr seriös abschätzen lässt.

Man weiß nur: Vor dem Sava-Zentrum haben sich schon tausende versammelt. Die Brücke ist voll. Vom Stadtzentrum her kommen immer noch Leute nach.

Es sind die größten Proteste in Serbien seit dem 5. Oktober 2000.

Am 6. Oktober trat Slobodan Milošević zurück.

Nicht einmal der staatliche Sender RTS kommt herum, breit über die Proteste zu berichten.

Die Aufnahmen können nicht verschleiern, dass hier eine ganze Stadt auf der Straße ist.

Gegen Gewalt. Gegen Medienmanipulation. Gegen Massenarmut. Gegen ein sich autoritär gebärdendes Regime.

Einzig das regimenahe Boulevardblatt Informer versucht, Vučić die Mauer zu machen.

„Bei Vučić in Pančevo 30.000 Leute“, sollte das Blatt am Samstagmorgen schreiben. Und: „10.000 Hater blockieren Gazela“.

Wer, zumindest in Beograd, diese Informationen glauben sollte, steht in den Sternen.

Auch unter den Veteranen der Proteste gegen eine korrupte Regierung nach der anderen in den vergangenen Jahrzehnten macht sich heute abend Optimismus breit.

„Das ist das Ende von Vučić“, sagt Ana aus Novi Beograd fröhlich.

„Das ist vielleicht nicht das Ende. Aber es ist der Anfang vom Ende“, sagt ihr Mann Aleksandar.

Der Angestellte ist seit 1997 regelmäßig auf der Straße.

Eine Aktivistin der linken außerparlamentarischen Opposition zeigt sich vorsichtig optimistisch: „Vielleicht ist das System nicht morgen weg. Aber bald. Die Frage ist nur, wie viel Schaden bis dahin angerichtet wird.“

Gut zweieinhalb Stunden hat der Großteil des Demonstrationszuges gebraucht, um vom Parlament bis zum Sava-Zentrum zu kommen.

Die Strecke ist etwa sechs Kilometer lang.

(Foto: Balkan Stories)

Bis das Ende des Demonstrationszuges eingetroffen ist, wird noch einmal eine halbe Stunde vergehen.

Bis Mitternacht hört man in der Umgebung die Rufe und manchmal Trillerpfeifen von Demonstranten.

Die Demo ist da schon mehr als zwei Stunden vorbei.

Und bis in die Morgenstunden machen tausende, vorwiegend junge Demonstranten und Oppositionspolitiker auf der Straße Party.

Die Autobahn nach Zagreb bleibt gesperrt.

Diese Menschen nehmen sich den öffentlichen Raum.

Sie haben die Kontrolle.

Vielleicht nur diese eine Nacht.

Aber bis vor kurzem war das in Serbien unvorstellbar.

Ist das der Beginn einer Revolution?

Vielleicht.

Jedenfalls ist nach einem langen serbischen Winter ein serbischer Frühling angebrochen.

Balkan Stories, Christoph Baumgarten

Christoph Baumgarten ist Journalist und Balkanreisender aus Leidenschaft. Seit 2015 verbindet er beide Leidenschaften auf seinem Blog Balkan Stories. Dort versucht er, Geschichten zu erzählen, für die es in größeren Medien meist keinen Platz gibt und stellt die Menschen in den Mittelpunkt.

Mehr von Christoph könnt ihr unter balkanstories.net nachlesen.