Der neue Bevölkerungsbericht der UN sagt den mittelbaren Kollaps der Gesellschaften im ehemaligen Jugoslawien voraus. Die Bevölkerung in der Region soll sich bis 2100 halbieren. Bei genauerem Hinsehen erweisen sich diese Prognosen sogar als optimistisch.
Knapp 1,4 Millionen Einwohner soll Bosnien im Jahr 2100 haben. Das prognostiziert der soeben aktualisierte Bevölkerungsbericht der Vereinten Nationen. Auf ihn berufen sich die Sendergruppe N1 und das kritische bosnische Portal Buka in ihrer Berichterstattung.
Im Rest der Region soll es 2021 nur unwesentlich besser aussehen. In Serbien soll die Bevölkerung auf 3,3 Millionen Menschen schrumpfen, in Kroatien auf 2,1 Millionen, in (Nord-)Mazedonien auf etwa eine Million. Das ist praktisch überall eine Halbierung der Bevölkerung.
Einzig in Slowenien und möglicherweise im Kosovo dürfte der Bevölkerungsrückgang weniger dramatisch ausfallen. Für Slowenien sagen die UN für 2100 1,6 Millionen Einwohner voraus, im Vergleich zu 2,1 Millionen heute.
Das sind die nackten Zahlen.
Um es in Worte zu fassen: Das ehemalige Jugoslawien stirbt aus. Hauptursache ist die Auswanderung.
Die setzt eine demographische Teufelsspirale in Gang: Auswandern tun vorwiegend junge Menschen. Menschen im Alter, in dem man typischerweise Kinder hat. Diese Kinder werden anderswo geboren und fehlen, um die Bevölkerungszahlen zwischen Lubljana und Skopje stabil zu halten.
Die Gesellschaften überaltern und schrumpfen aus rein biologischen Gründen immer schneller.
Der demographische Kollaps steht nach Einschätzungen der UN mittelbar bevor.
Die UN-Prognosen dürften zumindest teilweise noch reichlich optimistisch sein.
Bosnische Bevölkerung dürfte deutlich überschätzt worden sein
So basieren die Prognosen der UN-Experten für Bosnien auf der Annahme, dass das Land 2023 knapp 3,2 Millionen Einwohner hatte.
Der bosnische Demograf Aleksandar Čavić vom Statistischen Zentralamt für Bosnien und Hercegovina berechnete schon 2021, dass im Land weniger als drei Millionen Menschen lebten. Damals kam er auf 2,9 Millionen Einwohner. Balkan Stories berichtete.
Eine weitere Fehlerquelle ist, dass laut den UN-Daten 2022 und 2023 niemand aus Bosnien ausgewandert ist. Das erscheint eine reichlich optimistische Annahme. Noch 2021 hatten netto 26.000 Menschen das Land verlassen – oder fast ein Prozent der damaligen Bevölkerung.
Diese Fehler sind nicht den UN-Experten anzulasten. Sie stützen sich auf offizielle Daten aus Bosnien. Die sind bekanntermaßen ungenau.
Kleine Fehlerquellen summieren sich bei langfristigen Prognosen
Genauer sind die Zahlen aus Serbien. Aber selbst hier zeigen sich Fehlerquellen. So sollen dort 2023 4.000 mehr Menschen ein- als ausgewandert sein, 2022 sogar 40.000. Das erscheint gelinde gesagt sehr unwahrscheinlich – auch, wenn man den Zustrom an Immigranten aus Russland berücksichtigt.
Zwar hat die etwas bessere wirtschaftliche Situation die Massenemigration aus Serbien in den vergangenen Jahren deutlich schrumpfen lassen. Vorbei dürfte sie freilich nicht sein. Offizielle Zahlen spiegeln das oft nur ungenügend wieder. Nicht alle Auswanderer melden sich auch zuhause ab.
Nicht viel anders ist es in (Nord-)Mazedonien. Das meldete in den vergangenen Jahren sogar immer wieder, dass es eigentlich ein Einwanderungsland sei. Das erscheint nicht übermäßig wahrscheinlich. Zumal die Bevölkerung dort seit Jahren schrumpft.
Diese Fehler bewegen mit Ausnahme Bosniens sich im einstelligen Prozentbereich, wenn überhaupt. Bei einer Prognose über mehrere Jahrzehnte summieren sich solche Abweichungen freilich.
Das lässt erwarten, dass der demographische Kollaps im ehemaligen Jugoslawien schneller eintritt als es die Vereinten Nationen und die Regierungen der meisten dortigen Staaten erwarten.
Das lässt die düsteren Prognosen noch düsterer erscheinen.
Balkan Stories, Christoph Baumgarten
Christoph Baumgarten ist Journalist und Balkanreisender aus Leidenschaft. Seit 2015 verbindet er beide Leidenschaften auf seinem Blog Balkan Stories. Dort versucht er, Geschichten zu erzählen, für die es in größeren Medien meist keinen Platz gibt und stellt die Menschen in den Mittelpunkt.
Mehr von Christoph könnt ihr unter balkanstories.net nachlesen.
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