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GESCHICHTE

Balkan Stories: Wer nichts hat, gibt am meisten

(FOTO: Pomozi.ba)

Die Solidarität der Menschen am Balkan für die Erdbebenopfer in der Türkei und in Syrien ist im übertragenen und im wörtlichen Sinn überwältigend. Nach dem massiven Aufgebot an Rettungsteams rollt eine Spendenlawine an. Getragen wird sie von den Arbeitern, den Pensionisten, den Arbeitslosen der Region. Vor allem in Bosnien.

Fast hat die Solidarität der Einwohner Sarajevos die bosnische Hilfsorganisation Pomozi überwältigt.

Decken, Kleidung, Schuhe, Hygieneprodukte strömten übers Wochenende in die Sammelstellen der Organisation.

Die Zentrale im Stadtteil Čengić vila musste zwischenzeitlich für Spenden geschlossen werden.

Nur mehr im Hauptlager in Blažuj am Stadtrand konnten die Sarajlije Sachspenden abgeben.

Und dieses Lager ist voll.

Arbeiterinnen und Arbeiter, Pensionisten, Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose, Kleinunternehmer helfen mit. (FOTO: Amina Alađuz-Lomigora, Pomozi.ba)

Arbeiterinnen und Arbeiter, Pensionisten, Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose, Kleinunternehmer – mit Sackerl und Paketen beladen strömten gerade die so genannten einfachen Einwohner Sarajevos zu den Sammelstellen.

Sie kamen in Massen, und das brachte am Sonntag beinahe das Verkehrsnetz der bosnischen Hauptstadt zum Kollabieren.

Die Hilfsbereitschaft steckte an.

Die Fahrer von Sarajevos größter Taxifirma Crveni Taxi beschlossen am Sonntag, die Spendenwilligen und freiwillige Helfer umsonst nach Blažuj zu fahren.

Mittlerweile haben auch die Sarajevoer Verkehrsbetriebe GRAS eine Sonderbuslinie eingerichtet – obwohl die Spendennahme auch in Blažuj mittlerweile eingestellt ist.

Was war eigentlich schon für Sonntag geplant gewesen. „Es sind aber nicht alle Menschen dazugekommen, ihre Spenden abzugeben“, begründete Pomozi die Verlängerung der Frist.

Die Organisation bittet, vorläufig nur Geld zu spenden.

Mittlerweile sind laut Radio Sarajevo mehr als 500 Freiwillige im Hauptspendenlager beschäftigt, die Hilfsgüter zu sortieren und versandbereit zu machen.

Für sie stellt GRAS die Sonderbuslinie bereit.

500 Helfer, um die Spenden einer einzigen Stadt zu bewältigen.

Genauer: 500 Helfer, um zu bewältigen, was eine einzige Stadt an einem einzigen Wochenende gesammelt hat.

Elvir Karalić, Gründer von Pomozi, schätzt gegenüber dem Portal Faktor.ba den Wert der Sach- und Geldspenden auf etwa zwei Millionen Euro.

Umgelegt auf Wien wären das, Einkommensunterschiede miteinberechnet, Spenden im Gesamtwert von 30 bis 40 Millionen Euro nur für eine einzelne Organisation wie das Rote Kreuz.

Und das war nicht die einzige Sammelaktion in Sarajevo.

Bürgermeisterin Benjamina Karić richtete übers Wochenende eine Sammelstelle in der Vijećnica ein, dem früheren Rathaus Sarajevos. Das Gebäude hatte zwischen 1947 bis 1992 auch die bosnische Nationalbibliothek beherbergt.

Die Spenden aus der Vijećnica gehen an das Rote Kreuz, das die Hilfsgüter in das Katastrophengebiet bringen wird.

Dieses Video gibt einen kleinen Einblick. Man beachte, dass es vom Samstag ist, wo die Aktion erst angerollt war. Spätere Fotos zeigen, dass auch die Halle des historischen Gebäudes praktisch überging mit Hilfsgütern.

Was die Menschen in Sarajevo gegeben haben, wird in der Türkei und in Syrien dringend benötigt – von der Damenbinde bis zum Wintermantel.

Hunderttausende Menschen sind in der Region obdachlos. Die Versorgung und die öffentliche Ordnung sind weitgehend zusammengebrochen.

Ein erster Lkw von Pomozi brach am Montagnachmittag ins Katastrophengebiet auf.

Er ist beladen mit Heizkörpern und Stromgeneratoren im Wert von 100.000 Euro.

Lastwagen mit Hilfsgütern. (FOTO: Balkan Stories)

Diese würden am dringendsten benötigt, heißt es von Pomozi.

Der Konvoi mit den anderen Hilfsgütern soll demnächst aufbrechen.

In ganz Bosnien dürften humanitäre Organisationen bislang etwa 50 bis 70 Lkws voller Hilfsgüter gesammelt haben sein, schätzt Elvir Karalić. Dazu kommen Geldspenden, etwa für Pomozi oder Rote Kreuz und zahlreiche lokale Initiativen.

Als ob aus Österreich 200 Millionen Euro gespendet worden wären

Überwältigend auch die Hilfsbereitschaft im montenegrinischen Sandžak.

Bis Freitag hatten die Moscheegemeinden in der mehrheitlich muslimischen Grenzregion zu Serbien und zum Kosovo 275.000 Euro für die Erdbebenopfer in der Türkei und Syrien gesammelt.

Im montenegrinischen Sandžak leben ungefähr 80.000 Muslime.

Legt man das etwa auf Österreich um, würde das 30 Millionen Euro innerhalb von nur fünf Tagen entsprechend.

Berücksichtigt man die Einkommen der sehr armen Region, läge diese Summe eher bei 200 Millionen Euro.

Innerhalb, um es zu wiederholen, von fünf Tagen.

Aus Novi Pazar, der Hauptstadt des serbischen Sandžak, brachen am Montagnachmittag sechs Lkws mit Hilfsgütern in die Türkei auf.

Die Sachspenden waren über die örtlichen Moscheengemeinden gesammelt wurden.

Parallel liefen in allen Nachfolgestaaten Jugoslawiens zahlreiche Sammelaktionen für Sach -und Geldspenden.

Einen kleinen Überblick bietet DIESER Artikel von Balkan Stories vom Freitag.

Montagabend war es unmöglich, ein Zwischenergebnis der Aktionen zu liefern.

Nicht alle Organisationen stellen etwa einen aktuellen Stand ihrer Spendenaktionen bereit.

Warum man hier so schnell und so viel hilft

Was erklärt diese überwältigende Hilfsbereitschaft?

Im Sandžak spielt zweifelsohne die Religion eine große Rolle. Die meisten Spenden wurden ja über die örtlichen Moscheengemeinden organisiert.

Die dortigen Muslime sind in den vergangenen 100 Jahren diskriminiert worden. Im Zweiten Weltkrieg gab es mehrere Massaker durch Četniks an Muslimen, und selbst im säkularen Jugoslawien wurde die Region wirtschaftlich vernachlässigt.

Seit dem Ende Jugoslawiens hat sich die Situation für die Menschen kaum gebessert.

Siehe etwa DIESE und DIESE Reportage aus Novi Pazar oder DIESE Reportage aus Rožaje in Montenegro.

In der Region wird die Zeit, als man zum Osmanischen Reich gehörte, oft verklärt. Das erklärt eine gewisse engere Verbundenheit zur Türkei.

An die appellierten auch nationalistisch inspirierte Propagandaoffensiven des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogang in den vergangenen Jahren.

Freilich: Mindestens ebenso wichtig ist die altbekannte und gerne vergessene Tatsache: Arme Menschen wissen, wie es ist, nichts zu haben. Sie sind immer die Ersten, die helfen, und sie helfen, so viel sie können.

Ein Sandžaklija wird dich nie nach deiner Religion oder deinem Pass fragen, wenn du Hilfe brauchst.

Sie geben, was sie können

Auch in Sarajevo ist es nicht von der Hand zu weisen, dass es die Hilfsbereitschaft zusätzlich angeheizt hat, dass die meisten Bewohner Sarajevos und die meisten Bewohner der Türkei und Syriens Muslime sind.

In der Stadt hat man nicht vergessen, dass die internationale Gemeinschaft den Krieg in Bosnien in den 1990-ern jahrelang weitgehend ignorierte, und nicht zu Unrecht schreibt man das auch der Tatsache zu, dass die allermeisten Opfer dieses blutigen Konflikts Muslime waren.

Selbst der deklarierte Atheist Salman Rushdie sah das damals so und verurteilte diese Haltung gegenüber den Bosniern und vor allem den Einwohnern Sarajevos in seinem Essay „Bosnia On My Mind“.

Freilich: Nach Blažuj oder in die Vijećnica kamen Menschen aller und keiner Religion. Hier gab Sarajevo, und Sarajlija zu sein, das ist keine Frage der Religion.

Weit mehr als die religiöse Komponente spielt hier die Erfahrung eine Rolle, dass es in den 90-ern die einfachen Menschen waren, die Arbeiter, die Arbeitslosen, die Pensionisten, die mehr oder weniger an ihren Regierungen vorbei die Sarajlije nicht vergaßen und Hilfskonvoi um Hilfskonvoi befüllten, um die Einwohner der belagerten Stadt nicht verhungern zu lassen.

Dass viele der Konvois nicht durchkamen, war der Politik geschuldet, der Indifferenz der westlichen Regierungen – nicht einem mangelnden Hilfswillen der Wiener, der Berliner oder der Istanbuler.

Was man auch nicht vergessen hat: Es waren die Arbeiter, die Arbeitslosen, die Pensionisten in Österreich, der Schweiz, Deutschland und der Türkei, die damals viele bosnische Flüchtlinge aufnahmen.

Die Sarajlije wissen, wie es ist, von der hohen Politik verlassen zu sein und angewiesen zu sein auf die Solidarität der einfachen, der normalen, Menschen von anderswo.

Kurz: Die Menschen Sarajevos kennen die Situation genau, in der die Menschen im Katastrophengebiet in Syrien und der Türkei sind.

Sie geben, was sie können.

Oder, wie es die Sarajevoer Bürgermeisterin Benjamina Karić (SDP) schildert: „Wir wissen aus der Belagerung unserer Stadt am besten, was es bedeutet, in Not zu sein. Während der Aggression gegen Bosnien und Herzegowina haben wir unzählige Male gespürt, wie es ist, wenn wir Hilfe brauchen. Ich erinnere mich, als ich ein Mädchen war wie glücklich ich war, als die humanitäre Hilfe ein Spielzeug erhielt. Es waren Schuhkartons mit glänzenden Papieren und wir bekamen Geschenke von Kindern aus der ganzen Welt“.

Spendenaktionen für die Überlebenden der Katastrophe

In Österreich ruft der ORF mit seiner Aktion Nachbar in Not zu Spenden für die Betroffenen der Katastrophe auf.

(Weitere Spendenaktionen findet ihr im Artikel vom Donnerstag.)

Der Österreichische Gewerkschaftsbund sammelt Spenden für Wiederaufbauprojekte in Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften im Katastrophengebiet.

In Bosnien hat Pomozi mit seiner Spendenaktion 100.000 Euro gesammelt (Stand Montagabend). Über eine parallel laufende Telefonspendenaktion hat die Organisation bereits mehrere hunderttausend Euro an Spenden aufgestellt.

In Kroatien ruft das Rote Kreuz zu Spenden auf, ebenso das Rote Kreuz in Montenegro und das Rote Kreuz Slowenien.

In Serbien sind mehrere Spendenaktionen angelaufen, unter anderem vom Serbischen Philantropischen Forum und vom Roten Kreuz Serbien.

Zudem organisieren im serbischen und montenegrinischen Sandžak Moscheen Spendenaktionen.

In Skopje ist eine Sammelstelle für Spenden für die Erdbebenopfer eingerichtet worden, das mazedonische Rote Kreuz hat einen Spendenaufruf gestartet.

Im Kosovo hat die türkische Community eine Spendenaktion ins Leben gerufen.

Und das ist mit Sicherheit nur ein Teil der Hilfsaktionen, die alleine aus dem ehemaligen Jugoslawien für die Überlebenden der Katastrophe angelaufen sind.

Balkan Stories bittet um Verständnis, dass keine vollständigere Liste verfügbar ist.

Im Katastrophengebiet müssen zehntausende Verletzte versorgt werden, wahrscheinlich mehrere hunderttausend Menschen sind durch das Erdbeben obdachlos geworden.

Für die Versorgung dieser Menschen wird jeder Euro benötigt.

Balkan Stories, Christoph Baumgarten

Christoph Baumgarten ist Journalist und Balkanreisender aus Leidenschaft. Seit 2015 verbindet er beide Leidenschaften auf seinem Blog Balkan Stories. Dort versucht er, Geschichten zu erzählen, für die es in größeren Medien meist keinen Platz gibt und stellt die Menschen in den Mittelpunkt.

Mehr von Christoph könnt ihr unter balkanstories.net nachlesen.