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REPORTAGE

Freilernen statt Schulunterricht: Wir trafen Familie Siakkos

Lernen ohne Lehrplan
Die Grundidee beim Freilernen ist, dass der Mensch nur dann lernen kann, wenn das Lustzentrum in seinem Gehirn aktiviert ist. „Solange negative Gefühle wie Angst oder Zwang beim Kind im Vordergrund stehen, kann kein Lernen stattfinden. Notendruck, Bewertungszwang und Anwesenheitspflicht sind nicht kindergerecht. Wenn ich die Begeisterungsfähigkeit abtrainiere und Neugierde abtöte, dann töte ich jedes Lernen ab. Und das darf nicht passieren. In der Schule fokussiert man sich auf den roten Stift bzw. auf das, was nicht ist. Und wir fokussieren und auf das, was ist. In der Schule hat man immer Angst vor Fehlern und meine Kinder sehen die Fehler als Chance, etwas Neues zu lernen”, so Karin.

„Solange negative Gefüle im Vordergrund stehen, solange findet kein Lernen statt.”

Neben dem Lernen mit Neugier steht auch das verständnisbezogenes Lernen im Vordergrund: „Die Schule gibt immer Antworten auf die Fragen, die nie gestellt wurden. Wenn man sich die Statistiken anschaut, wie viel vom schulischen Wissen wieder vergessen wird, dann sind die Zahlen eigentlich erschreckend. Diese Lernweise ist überhaupt nicht nachhaltig, wenn man alles wieder vergisst, sobald man die Prüfung hinter sich hat. Im Gegensatz dazu lernen unsere Kindern, indem sie etwas verstehen.”

BUCHTIPP: „Lernen ist wie atmen” (von Gudrun Totschnig, Sigrid Haubenberger-Lamprecht, Alexandra Terzic-Auer)
In diesem Buch beantworten Jugendliche, Eltern, Großeltern und auch Beobachter von außen die Frage – „Wie kann man Kinder ohne Lehrplan zu Hause aufwachsen lassen?” Sie berichten über ihre ebenso vielfältigen wie ermutigenden Erfahrungen mit dem Freilernen, aber auch über die Ängste und Zweifel, die immer dazu gehören.

Als weiterer Schlüsselpunkt für die selbstbestimmte Bildung sieht Karin das Vertrauen: „Wir haben Vertrauen in Kinder, in uns selbst und in das Leben, weil ohne das funktioniert das Freilernen gar nicht. Natürlich interessieren sich Kinder für manche Sachen, die im Lehrplan stehen und für manche, die nicht im Lehrplan stehen. Dabei ist es wichtig, dass man nicht wertet und sagt, welches Interesse besser ist, sondern zu sagen: Alles, was dich interessiert und begeistert, ist willkommen und gleichwertig wichtig. Das war für mich auch ein riesiger Lernprozess. Leute fragen mich, ob ich Angst habe, was aus den Kindern werden wird. Aber ich sage immer ’nein’, weil erstens, sie müssen nicht werden, sie sind und zweitens, glaube ich sehr wohl, dass sie, egal was sie machen, glücklich sein werden.”

Dass Kinder keinen Lehrplan bekommen, heißt jedoch nicht, dass sie keine Aufgaben und Pflichten haben. Familie Siakkos lebt auf einem Hof, auf dem ihren Kindern viele Möglichkeiten zur Verfügung stehen, sich selbst zu entdecken und sich in verschiedensten Bereichen auszuprobieren. Dort ist jeder Tag anders, aber es gibt bestimmte Rahmen, die sie gemeinsam als Familie geschaffen haben: „Wir machen immer Familienkonferenzen und die finden wir sehr nützlich, weil wir alles gemeinsam besprechen. Wir haben die Hausarbeiten altersgerecht verteilt und jeder muss seine Arbeit leisten. Als Familie sind wir ein Team, das sehr wohl zusammenarbeitet, und ich sehe, dass die Kinder eben genau in diesem realen Leben verankert sind und in der Lage sind, selbständig zu sein. Und das wollen sie auch. Sie wachsen in ihr Sozialsystem hinein, indem sie Teil davon sind und dann können sie es übernehmen. Das ist eigentlich die natürliche Art und Weise, erwachsen zu werden. Das, was im Schulsystem passiert, ist eine künstliche Verzögerung des Prozesses des Erwachsenwerdens. Weil, wenn ein 18-jähriger Maturant immer noch fragen muss, ob er pinkeln gehen darf, dann betrachtet ihn die Menschheit nicht als eine erwachsene Person. Dann müssen wir uns nicht wundern, dass die Jugendlichen frustriert sind. Sie wollen alle erwachsen werden, nur wir tun so, als ob sie das nicht wären.”

„Als Familie sind wir ein Team, das sehr wohl zusammenarbeitet, und ich sehe, dass die Kinder eben genau in diesem realen Leben verankert sind und in der Lage sind, selbständig zu sein”, so Karin. (FOTO: zVg.)

Tamino, Allegra, Philomena und Aeneas nehmen an vielen Aktivitäten teil – sie gehen in Vereine, besuchen die Musikschule und vieles mehr. Manchmal sagen sie, dass sie mit so vielen Aktivitäten keine Zeit für Schule hätten. Aber auch wenn sie nicht in die Schule gehen, haben sie jederzeit die Möglichkeit, alle notwendigen Abschlüsse nachzuholen, die sie für ihre Weiterbildung – entsprechend ihrer Interessen – brauchen. „Viele Wege sind jederzeit offen und uns, als Eltern, ist es nicht wichtig, ob sie das machen wollen oder nicht, weil wir wissen, dass, wenn sie das machen möchten und glauben, dass sie das brauchen, sie es schaffen werden”, sagt Karin voller Vertrauen in ihre Kindern.

„Es nützt nichts, Informationen auswendig zu lernen und sie gleich nach der Prüfung zu vergessen, sondern zu wissen, wo ich nachschauen kann, wenn ich sie brauche.”

Dass sich Kinder für etwas interessieren, bei dem ihre Eltern ihnen als Laien nicht viel helfen können, sieht Karin als keinen Nachteil: „Ich weiß, dass ich ihnen bei ganz vielen Sachen nicht helfen kann. Das muss ich aber auch nicht, weil es viele andere Spezialisten und kompetentere Menschen in den jeweiligen Bereichen gibt, die sie fragen können und wir unterstützen sie dabei. Wir besuchen Büchereien, Bibliotheken, machen Internetrecherchen. Es nützt nichts, Informationen auswendig zu lernen, sondern zu wissen, wo ich nachschauen kann, wenn ich sie brauche. Im Schulsystem muss man ständig Fehler verstecken, aber in unserer Welt braucht sich nie-mand schleicht fühlen, weil er etwas nicht weiß. Erst, wenn ich erkenne, dass ich etwas nicht weiß, habe ich überhaupt die Chance, mir das Wissen anzueignen.”

Disziplin kommt „natürlich”
Wenn Kinder nicht in die Schule gehen, dann stellt sich die Frage, ob sie überhaupt lernen können, in einer Gemeinschaft zu funktionieren, Hierarchien und Autoritäten zu respektieren. „Disziplin ist etwas, was von außen passiert, und Autorität ist etwas, was man entweder von sich aus hat oder nicht. Ich glaube, es ist äußerst wichtig, dass die Menschen lernen, in Gruppen zu agieren. Aber, was heißt eigentlich Disziplin? Dass man jeden Tag um 6:30 Uhr aufsteht, seine Hausaufgaben macht und das war’s? Unsere Kinder haben ’natürliche Konsequenzen’. Ein Beispiel dafür – unser ältester Sohn ist jetzt 15 Jahre alt und hat schon zehn Jahre Erfahrung als Tierhalter und Wirtschaftler. Das ist etwas, was er selbst ausgewählt hat, und das bedeutet, dass er das mit allen positiven und negativen Seiten machen muss. Es ist wichtig, dass Kinder verantwortungsbewusst und verlässlich werden, aber diese Verantwortung und Disziplin kommen ’natürlich’. Sie müssen nicht von außen antrainiert werden. Diese Disziplin ist eng mit der Wahlfreiheit verbunden. Wenn Kindern lernen, dass sie kein Mitspracherecht haben und nicht entscheiden können, verlieren sie langsam das Verantwortungsgefühl. Man muss verstehen, dass man der Meister seines eigenen Lebens ist und jeden Tag neu entscheiden kann. Dieses aktive Gestalten ist sehr wichtig. In der Schule lernen wir, dass wir machtlos sind, weil wir keine Veränderungen bewirken können und sitzen und warten müssen, dass jemand für uns die Entscheidung trifft. Und das darf nicht sein. Sonst fällt man in die Opferrolle hinein”, so Karin.

 „Die Lösung für das Schulsystem würde darin bestehen, den Zwang abzuschaffen und den Kindern Würde und Wahlmöglichkeit zu geben.”

Diese Verantwortung und das Selbstbewusstsein sind die Hauptpunkte, in denen sich Freilerner von Kinder unterscheiden, die in die Schule gegangen sind. „Unsere Kindern wollen immer mehr Verantwortung übernehmen. Es ist nicht so, dass wir sie dazu zwingen, sondern das ist etwas, was sie unbedingt wollen. Meine Tochter, die 12 ist, ist mit mir in die Schule gegangen, wo ich Englisch unterrichte, und nach einiger Zeit konnte ich sie ohne Bedenken alleine lassen, um diese Kurse zu leiten. Derzeit bringt sie den Burschen (5) Englisch bei. Ich kennen keine 12-jährige, die solche Kompetenzen hat. Aber sie hat sie, weil sie sich selbst dazu entschieden hat. Das ist der riesige Knackpunkt und ich glaube, dass die Lösung für das Schulsystem darin bestehen würde, den Zwang abzuschaffen und den Kindern Würde und Wahlmöglichkeit zu geben. Unsere Kinder haben Kompetenzen, die sie für den Rest ihres Lebens behalten werden. In der Schule wird Wissen reingestopft und daraus sollen die Kompetenzen rauskommen. Aber das funktioniert so nicht im Leben. Wenn wir das Wissen nicht fühlen können oder es nicht verinnerlicht haben, nutzt es uns nicht.”

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