Start News Panorama
VERTRETUNGSGESETZ

Zu viel Freiheitseinschränkung bei betreuten Kindern

KINDER
(FOTO: iStock/ Rawpixel)

In betreuten Wohngemeinschaften würden Kinder und Jugendliche mitunter mit polizeilichen Sicherungsmaßnahmen festgehalten, berichtet die Tageszeitung „Die Presse“ (Montag-Ausgabe) unter Berufung auf Angaben von Vertretungsorganisationen. Der Bewohnervertretung des Vereins Vertretungsnetz seien im vergangenen Jahr 3.500 freiheitseinschränkende Maßnahmen gemeldet worden, bei 30 Prozent davon habe es sich um Fixierungen gehandelt.

Laut Grainne Nebois-Zeman, stellvertretende Fachbereichsleiterin der Bewohnervertretung, kommt es immer häufiger vor, dass Kinder in Sonderschulen oder Wohngemeinschaften bei „Impulsdurchbrüchen“ über einen längeren Zeitraum hinweg in Klassen- oder Bewegungsräumen festgehalten würden. Auch das „Ruhigstellen“ mit sedierenden Medikamenten sei immer öfter unter den gemeldeten Fällen, schreibt die „Presse“.

Beispielsweise sei eine Zwölfjährige eine Stunde lang in Bauchlage festgehalten worden. Der Fall sei umso problematischer, weil das in einer Wohngemeinschaft für Kinder und Jugendliche untergebrachte Mädchen in der Vergangenheit sexuellen Missbrauch in seiner Familie erfahren habe. Laut einem Sachverständigen habe der Vorfall eine „massive Retraumatisierung“ verursacht, so die „Presse“.

Durch das Heimaufenthaltsgesetz sind freiheitseinschränkende Maßnahmen seit vier Jahren rechtlich gedeckt. Sie müssen aber alternativlos sein, betonte Nebois-Zeman. „Die Maßnahmen sind andere als etwa in der Altenpflege oder im Behindertenbereich. Das Festhalten ist typisch für den Kinder- und Jugendbereich“, sagte sie auf APA-Anfrage. Natürlich könne es zu Situationen kommen, in denen die Fremd- oder Selbstgefährdung so groß ist, dass eine Freiheitseinschränkung alternativlos sei. Andere Fälle sollten aber schon im Vorfeld durch Deeskalieren verhindert werden. Hier gehe es um präventiv eingesetzte pädagogische Maßnahmen, die „viel mit Beziehung zu tun haben“.

Insgesamt beobachte man seit 2018 – seitdem ist der Verein auch für untergebrachte Kinder und Jugendliche zuständig – „eine in etwa gleichbleibende Zahl an Maßnahmen“ insgesamt. Diese werden durch die Betreuungspersonen dokumentiert und von der Leitung gemeldet. Man müsse von einer erheblichen Dunkelziffer ausgehen. Durch Corona ließen sich die Zahlen aber nicht vergleichen bzw. sei der Zeitraum auch noch zu kurz.

Fälle, in denen wiederholt freiheitseinschränkende Maßnahmen gesetzt wurden, werden durch den Verein einer gerichtlichen Überprüfung zugeführt. 2022 sei das rund 30 Mal der Fall gewesen, sagte Nebois-Zeman der APA. Darunter seien immer auch Medikamentationsmeldungen oder Fälle, in denen Kinder oder Jugendliche die Einrichtung nicht verlassen durften. Vor Gericht werden Maßnahmen mitunter für nicht zulässig erklärt, in anderen Fällen rückwirkend als zulässig, aber mit Auflagen verknüpft, etwa Schulungen oder mehr Personal zu bestimmten Zeiten.

Am häufigsten erfolgten 2021 – aus diesem Zeitraum stammt der jüngste Jahresbericht – Freiheitsbeschränkungen durch Medikation (48 Prozent), gefolgt von „Hindern am Verlassen eines Bereichs“ (inkl. Festhalten, körperlicher Zugriff) mit 43 Prozent. „In Kinder- und Jugendeinrichtungen und im Sonderschulbereich werden auffallend viele beschränkende Maßnahmen durch ‚Festhalten, Zurückhalten oder körperlichen Zugriff‘ gesetzt. Das Festhalten erfolgt in beiden Einrichtungsarten durch eine oder mehrere Personen und ist meist eine Reaktion auf einen Impulsdurchbruch des betroffenen Kindes/Jugendlichen. Gerade angesichts der physischen Größenunterschiede, des bestehenden Autoritätsverhältnisses und der Gefahr der Retraumatisierung … sind die gemeldeten Freiheitsbeschränkungen ‚Festhalten‘ besonders kritisch zu hinterfragen, denn es stehen zumeist alternative, schonendere Deeskalationsmaßnahmen zur Verfügung“, ist dort festgehalten.

Zu den Vorwürfen gäbe es keinerlei „Wahrnehmung oder Rückmeldung“, hieß es vom Verein Pro Juventute, einer von mehreren von der „Presse“ kontaktierten Kinder- und Jugendorganisationen, die betreute Wohngemeinschaften zur Verfügung stellen. Neben Deeskalationsschulungen gebe es regelmäßige Gespräche mit Experten, die „Inputs für das Verhalten von Personal in pädagogisch herausfordernden Situationen einbringen“. Jugend am Werk betonte demnach, dass in ihren Häusern keine „körperlichen Fixierungen jeglicher Art“ stattfänden. Ein Zuwiderhandeln würde zu dienstrechtlichen Konsequenzen führen. Dennoch könne es immer zu Situationen kommen, in denen die Polizei angefordert wird. Das sei im vergangenen Jahr weniger als einmal pro Monat notwendig gewesen.

Hauptgrund für manche unverhältnismäßige Maßnahme ist der „Presse“ zufolge die Überforderung des Personals, ausgelöst durch Fachkräftemangel. Alles in allem würden die Kolleginnen und Kollegen aber einen „guten Job in einem sehr herausfordernden Feld machen“, betonte Nebois-Zeman. Die Deeskalationsschulungen sind laut Vertretungsnetz allerdings mangelhaft. Im Fokus stünden polizeiliche Sicherungs- und Fixierungstechniken, die für den Umgang mit gewalttätigen Erwachsenen entwickelt wurden.

Der Österreichische Berufsverband der Sozialen Arbeit (OBDS) berichtete der „Presse“, dass „strukturelle Mängel und die Personalknappheit“ zu einer „permanenten Be- und Überlastung der Fachkräfte“ und einer „Branchenflucht“ führten. Eine Aufstockung der Ausbildungsplätze an den Fachhochschulen sei dringend. Derzeit könne nur ein Bruchteil der Interessierten aufgenommen werden.

Nebois-Zeman bestätigte der APA, dass Personalmangel ein großer Beitragsfaktor sei. „Haltung, Einstellung und Ausbildung sind aber ebenfalls sehr wichtig“, betonte sie. Wer auf Krisensituationen vorbereitet sei, könne besser damit umgehen.

Der Verein Vertretungsnetz ist zum Schutz der persönlichen Freiheit von Menschen mit psychischer Erkrankung oder intellektueller Beeinträchtigung u.a. auch für Pflegeheime und Krankenanstalten zuständig. Die Organisation ist mit Ausnahme von Vorarlberg österreichweit tätig, in Wien wird der Bereich komplett abgedeckt, in einigen Ländern wie Niederösterreich oder Salzburg zum Teil. Insgesamt fallen 2.135 Einrichtungen für Kranken- und Altenpflege sowie Behinderte und mehr als 700 für Kinder und Jugendliche in ihren Zuständigkeitsbereich. 2021 waren laut Jahresbericht 30.836 Personen aus allen Bereichen von insgesamt 75.816 Freiheitsbeschränkungen betroffen.

(APA)