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Balkan Stories: Die Gefahr des selbsterfüllenden Klischees

JUGOSLAWIEN
(FOTO: iStock/mirza kadic)

Srebrenica war kein Naturgesetz

Wirklich anders als im Rest Europas sind freilich „nur“ die 1990-er.

Auch wenn alle Seiten massive Kriegsverbrechen begangen haben, die meisten gehen zu Lasten serbischer Milizen und der Armee der Republika Srpska, wie der Völkermord von Srebenica als trauriger Höhepunkt der Schande.

Auch über die Rolle der JNA als Ermöglicherin vieler serbisch-nationalistischer Verbrechen gebe es viel zu sagen, aber heben wir uns das für später auf oder überlassen es einer Historikerin oder einem Historiker.

Es soll kein einziges Verbrechen entschuldigen und das Gedenken an kein einziges Opfer der 1990-er mindern, wenn man darauf hinweist: Man kann den Krieg in Kroatien, Bosnien und später im Kosovo nicht ohne den Zweiten Weltkrieg in Jugoslawien und die Verwerfungen der beginnenden kapitalistischen Restauration beim Zerfall Jugoslawiens begreifen.

Ohne beides hätte der Nationalismus nicht die Massenbasis gefunden, die er unbestreitbar hatte. Keineswegs nur in Serbien. Für Kroatien und den Kosovo gilt das Gleiche.

Dass vor allem die BRD und Österreich sehr einseitig und sehr deutlich den kroatischen und später den albanischen Separatismus unterstützten, trug übrigens sehr zur Eskalation bei.

Der Krieg und die Schlächtereien folgten freilich keinem Naturgesetz.

Es sind Menschen für sie verantwortlich. Einige fanden sich auf der Anklagebank des ICTY in Den Haag. Es waren viel zu wenige.

Es waren sehr spezifische Umstände und keineswegs allgemein balkanesische, die diesen Menschen Antrieb und Macht gaben, einen Krieg vom Zaun zu brechen und tausende junge Männer aufzustacheln, ihre Nachbarn zu massakrieren.

Daraus alleine lässt sich keine These der balkanischen oder gar der jugoslawischen Besonderheit entwickeln.

Eine solche These ist auch gefährlich. Dazu mehr in ein paar Absätzen.

Was anderswo passierte

Auch die grausamen Balkankriege 1912 und 1913 waren keine balkanesischen Verirrungen von einem allgemeinen Lauf der europäischen Geschichte.

Keine zehn Jahre später passierte in Polen, der Ukraine und im Baltikum das Gleiche. Teilweise genauso grausam.

Nur redet heute keiner mehr darüber.

Dass sich die Entente 1918 das Osmanische Reich aufteilte und keineswegs zimperlich war gegenüber der Bevölkerung – das lernt man heute zumindest in Mitteleuropa nicht im Geschichtsunterricht.

Das liegt daran, dass es in den beiden letztgenannten Fällen jeweils Interessen so genannter westlicher Großmächte gab.

Da sind solche Kriege immer Teil des Wahren, Guten und Schönen, und wenn nicht das, sind sie zumindest gerecht, und wenn auch das nicht, sind sie schlimmstenfalls zu vernachlässigende Abweichungen vom allgemeinen Lauf der europäischen Geschichte.

Vor dem 20. Jahrhundert lässt sich die These des blutdürstigen Balkanesen als solchem, und besonders in der Unterart des Jugoslawen, gleich welcher Zugehörigkeit, schon gar nicht belegen.

Die Serben etablierten ihre Unabhängigkeit im 19. Jahrhundert mit mehreren Aufständen und Kriegen.

Das taten die Deutschen und Italiener auch.

Deutschland und Frankreich als abschreckendes Beispiel

Die Deutschen redeten sich über den Napoleonischen Kriegen und dem Einigungskrieg 1870/71 ein, die Franzosen seien ihre Erbfeinde.

Einmal in jeder Generation müsse man den Franzosen als solchen niederringen. So wolle es das Gesetz.

Das war nicht hilfreich, um die Deutschen davon abzuhalten, zwei Weltkriege vom Zaun zu brechen.

Die Illusion vom Erbfeind Frankreich hatte ein Eigenleben entwickelt und beeinflusste die Politik Deutschlands in dieser Zeit nachhaltig.

Versöhnliche Gesten gegenüber Frankreich waren nicht drin.

Nicht, dass es bei den Franzosen anders gewesen wäre.

Die sahen die Deutschen ihrerseits als Erbfeind. Und verhielten sich entsprechend.

Über Jahrzehnte fesselten die Klischees vom Erbfeind jenseits der Grenze beide Parteien in einem Teufelskreis des gegenseitigen Misstrauens.

Das Ergebnis ist bekannt.

Der Mythos lähmt die Widerstandskraft

Das Gleiche passiert mit dem Klischee des blutdürstigen Balkanesen als solchem, und besonders in der Unterart des Jugoslawen, gleich welcher Zugehörigkeit, der halt alle 40 Jahre mal Blut saufen müsse.

Es ist Fatalismus, nichts weiter. Der entwickelt immer ein Eigenleben.

Welchen Sinn haben vertrauensbildende Gesten zwischen Nachbarn, welchen Sinn eine Aufarbeitung der Geschichte und vor allem der eigenen Verbrechen, welchen Sinn haben Kompromisse, wenn man in ein paar Jahren ohnehin wieder Blut saufen muss?

Solche Klischees stärken auf Sicht nur stramme Nationalisten und Militaristen. Wenn der Krieg eh unvermeidlich ist, hat man lieber solche Leute an der Macht, die sicherstellen, dass die eigene Seite gewinnt.

Die Normalen starren auf diese Entwicklung wie die Karnickel auf die Schlange.

Man mag falsch finden, was passiert – so lange man es als eine Art Naturgesetz begreift, wird man weniger bereit sein, etwas dagegen zu unternehmen.

Das ist mit Sicherheit eine wesentliche Erklärung, warum in Beograd die groteske Verbreitung von Ratko Mladić-Graffiti achselzuckend hingenommen wird.

Wenn die Falken auch in der Sicht der Tauben ohnehin Oberhand gewinnen müssen, warum soll man sich aufregen über sie?

Klar, dieser Fatalismus ist nicht die einzige Erklärung für die kontraproduktive Politik in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens.

Noch ist die nationalistische Außenpolitik dieser Staaten das einzige Problem, das es in der Region gibt.

Da wäre auch die extrem konzernfreundliche Politik, mit der Arbeitnehmerrechte ausgehöhlt und Löhne gedrückt werden.

Die Korruption nicht zu vergessen. Sie gedeiht in einem nationalistischen Klima immer und überall wie eine Sumpfblüte.

Nur, ohne die Vorstellung, es müsse halt alle 40 Jahre einen Krieg geben, wäre es auch für viele politisch nicht so Engagierte einfacher, sich zu motivieren, wenigstens ein bisschen was zu tun.

Das wäre bitter nötig.

Balkan Stories, Christoph Baumgarten

Christoph Baumgarten ist Journalist und Balkanreisender aus Leidenschaft. Seit 2015 verbindet er beide Leidenschaften auf seinem Blog Balkan Stories. Dort versucht er, Geschichten zu erzählen, für die es in größeren Medien meist keinen Platz gibt und stellt die Menschen in den Mittelpunkt.

Mehr von Christoph könnt ihr unter balkanstories.net nachlesen.