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GESCHICHTE

Balkan Stories: Warten auf den Donner der Kanone

(Foto: zVg.)

Im Ramadan gibt es nichts, was viele Sarajli sehnlicher erwarten als den Donner der Kanone auf der Žuta tabija, der Gelben Festung, über der Stadt. Abend für Abend wird sie zum Zentrum eines für westliche Augen vielleicht exotischen Schauspiels, das auch touristisch vermarktet wird.

Erwartungsvoll sitzt ein Rudel freundlich wirkender Straßenhunde auf dem Rücken einer Anhöhe unter der Mauer der Žuta tabija, der Gelben Festung, in Sarajevo.

Heute wird reichlich abfallen für sie. Nur warten werden sie müssen.

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Madlena deutet freudig auf die Hunde. Sie ist die Tochter meiner Gastgeber Marija und Adi.

Wie viele sind wir heute abend raufgefahren nach Vratnik, ins älteste Viertel der Stadt. Wir wollen das Schauspiel beobachten.

Hinter den Straßenhunden sehen wir die ersten Picknicker. Diszipliniert sitzen sie vor den vollen Körben und sonstigen Gefäßen, in denen sie ihr Abendessen heraufgeschafft haben.

In den Resten der osmanischen Festung selbst hat ein Cafe eröffnet. Von Frühjahr bis in den Herbst hat es offen. Seine Hauptsaison ist der Ramadan.

Das mutet vielleicht paradox an.

In Sarajevo sind etwa 80 Prozent der Bevölkerung muslimisch, zumindest auf dem Papier.

Viele fasten in irgendeiner Form

Auch wenn so gut wie alle sehr säkular leben, während des Ramadan, hier heißt er ramazan, hält sich ein nicht allzukleiner Teil in irgendeiner Form an das Fastengebot.

Die meisten Ramadanteilnehmer verzichten auf Alkohol, manchmal auch auf Zigaretten. Manche halten sich auch ganz streng daran.

Bis zum Einbruch der Nacht aind die Restaurants der Stadt weniger gut besucht als sonst. Beileibe nicht nur die, die als halal gelten.

„Zwei unserer wilderen Clubs haben während des Ramadan auch zugesperrt“, erzählt mir Elma, eine Bekannte, die in Vratnik wohnt. „Die Leute halten sich zurück mit dem Fortgehen.“

Außerdem gibt es während des Ramadan deutlich weniger arabische und türkische Touristen. Vor allem die Araber gelten in Sarajevo als feierfreudig.

Es wäre eine Übertreibung zu sagen, dass das Leben in den Lokalen der Stadt während des muslimischen Fastenmonats darniederliegt. Aber es ist etwas gedämpft.

Nur nicht hier, auf der Gelben Festung.

Alle Tische sind reserviert. Auf den Grünflächen ohne Tische stehen die Menschen dicht gedrängt.

Auch Touristen sind hier

Es sind vorwiegend Sarajli, ganze Familien.

Der Anteil der Touristen ist gleichwohl hoch.

Neben mir drängt sich etwa eine amerikanische Reisegruppe an die Absperrungskordel, die die reservierten Tische des inneren Bereichs vom äußeren Bereich trennt.

Um bei dem Andrang allen Eventualitäten vorzubeugen, hat das Cafe Sicherheitspersonal angeheuert.

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Auch auf den  Mauerresten stehen die Menschen, machen Selfies oder Fotos von Sarajevo, das sich majestätisch unter uns ausbreitet und durch das Tal der Miljacka windet.

Allen Fotos und Plaudereien zum Trotz, die Massen hier schielen beständig auf die Uhr oder auf einen Punkt, der im Zentrum des abgesperrten Halbkreises im Schanigarten liegt.

Es ist eine Kanone, oder streng genommen ein Mörser. Ein zeremonielles Gerät, keines, das dem Aussehen nach geeignet wäre, sonderlich großen Schaden anzurichten.

Um den Mörser stehen zwei Männer. Einer trägt einen Fez. Der Filzhut war bis zum Ende des Ersten Weltkriegs die übliche Kopfbedeckung in Bosnien. Ein Erbe des Osmanischen Reichs, das das Land bis 1878 beherrschte.

Der Mann mit Fez wird um 20 Uhr 35 die Pulverladung des Mösers zünden.

Der Knall wird der ganzen Stadt das Ende des Tages gemäß des islamischen Kalenders verkünden.

Dann ist Iftar. Fastenbrechen.

Diszipliniertes Warten

Wer sich an das Fastengebot hält, darf ab diesem Zeitpunkt trinken und essen.

Die Kellner servieren schon Brot für die Tische unter dem Dach. Es ist die Beilage für das Iftarmenü des Cafes. Es kostet 25 Mark, das sind 12 Euro 50.

Der Preis entspricht gut zwei Mahlzeiten in einem Restaurant im Stadtzentrum, inklusive Getränke.

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Auf den Tischen außerhalb darf man auch Mitgebrachtes essen.

Viele Besucher haben ihre Mahlzeiten vor sich ausgebreitet und warten geduldig auf den Donner der Kanone.

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Die meisten lassen das Essen und die Getränke sicherheitshalber in den Sackerln und Verpackungen, in denen sie sie hinaufgebracht haben.

Nur keine Versuchung im letzten Moment.

Die Pizzas, an denen sich viele laben werden, werden in den Kartons kalt.

Ein Kind kollabiert

Vorn links Durcheinander. „Hat jemand Wasser?“ ruft ein Mann.

Eine Familie neben mir hat sofort eine Flasche bereit. Ein Mann läuft und holt sie und rennt in Richtung Durcheinander zurück.

Mehrere Menschen beugen sich über einen kleinen Körper, andere stützen ihn.

Ein Junge ist kollabiert. Er ist kaum zwölf Jahre alt, sofern sich das aus der Entfernung feststellen lässt.

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Ein paar Schlucke Wasser bringen ihn zu Kräften. Er kann eigenständig sitzen.

War das Fasten zu viel für den Zwölfjährigen?

Man kann es nur vermuten.

Aus der Entfernung ist nicht festzustellen, ob der Junge Einheimischer ist oder Tourist.

Und noch weniger, welcher Religion er angehört und ob er eine praktiziert und welche.

An sich sollte er gemäß religiösen Regeln als Heranwachsender während des Ramadan nicht fasten.

Aber, sollte der Kollaps in Zusammenhang mit dem Ramadan stehen: Religiösen Familien ist hier wie anderswo der Schein oft wichtiger als die Vernunft. Und Kinder werden zu Projektionsflächen der eigenen Vorstellungen.

Das Phänomen ist keineswegs auf den Islam beschränkt. Man denke nur an die Widerstände streng katholischer oder protestantischer Eltern gegen Sexualkundeunterricht.

Auch das gefährdet die Gesundheit der Kinder. Wenn auch mittelbarer als wenn Heranwachsende einen ganzen Tag nichts essen.

Aber, wie gesagt: Wir können nur vermuten, dass der Kollaps des Zwölfjährigen im Zusammenhang mit dem Ramadan steht.

Es erscheint in diesem Zusammenhang die naheliegendste Erklärung. Die einzige ist sie keineswegs.

Fast wie Silvester

Das Durcheinander hat sich beruhigt. Dem Jungen geht es augenscheinlich besser.

Fotoapparate und Smartphones sind auf den Mörser gerichtet, auch einige Fernsehkameras.

Es hat ein bisschen was von Silvester.

Was fehlt, ist der Countdown.

Die elektronische Lunte wird abrupt gezündet, ohne Zeremoniell.

Die Stichflamme schießt überraschend aus dem Mörser. Ebenso überraschend kommt der dumpfe Knall.

Er ist viel leiser, als man sich das im Vorfeld ausmalt.

Das bisschen Knallen freilich wird von den Bergen zurückgeworfen, die Sarajevo umrahmen. Das Echo bricht, um der ganzen Stadt zu sagen: Es ist Iftar.

Kaum einer der Fotografen hat den perfekten Moment erwischt, an dem die Stichflamme aus dem Mörser schießt.

Auch nicht der Amerikaner neben mir, der ein sehr brauchbares Teleobjektiv hat. „Du hast es besser erwischt als ich“, sagt er zu mir, als wir einander die Bilder zeigen.

Zufrieden kann ich freilich auch nicht sein.

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Rascheln allerorten

Hier oben hört man allerortens Rascheln.

Sandwiches werden aus den Sackerln geholt, Suppen, Salate. Kartons mit kalten Pizzas werden geöffnet. Flaschen mit Cola und Mineralwasser an die Münder der Fastenden geführt.

Nach einem ganzen Tag ohne Trinken und Essen legen die Menschen eine Art erstaunlich disziplinierter Gier an den Tag.

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Heißhunger und Durst sind offensichtlich wie nachvollziehbar. Man nimmt große Schlucke und große Bisse.

Schlingen tut freilich niemand.

Die Kellner des Cafes kommen ins Schwitzen.

Ab jetzt bestellt jeder Getränke. Außerdem müssen sie so schnell wie möglich die weiteren Gänge des Iftar-Menüs servieren.

Wir haben genug gesehen und gehen Richtung Auto.

Die Picknicker unterhalb der Festungsmauer genießen ihr Abendessen und einen wundervollen Ausblick auf Sarajevo.

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Es ist ein besseres Panorama als die meisten Gäste in der Gelben Festung genießen können.

Der Preis für den Ausblick ist der Schwefelgeruch.

Der Wind hat die Gase des Mörserfeuers nach unten gedrückt.

Die Hunde sind vor dem Knall in die nähere Umgebung geflüchtet.

Sie werden bald zurück sein und sich an den Resten des Iftar-Essens laben.

Balkan Stories, Christoph Baumgarten

Christoph Baumgarten ist Journalist und Balkanreisender aus Leidenschaft. Seit 2015 verbindet er beide Leidenschaften auf seinem Blog Balkan Stories. Dort versucht er, Geschichten zu erzählen, für die es in größeren Medien meist keinen Platz gibt und stellt die Menschen in den Mittelpunkt.

Mehr von Christoph könnt ihr unter balkanstories.net nachlesen.