Das Messerattentat auf die Dekanin der Philosophischen Fakultät in Niš bei einer Demonstration am Sonntag lässt deutlich werden, wie verroht der öffentliche Diskurs in Serbien ist. Von Serbiens Präsident Aleksandar Vučić abwärts hatten führende Funktionäre der Regierungspartei SNS und der serbische Boulevard monatelang gegen Natalija Jovanović gehetzt.
Haben Serbiens Präsident Aleksandar Vučić und regimenahe Boulevardmedien wie Informer und Pink Natalija Jovanović zum Ziel einer psychisch kranken Attentäterin gemacht?
Ja, sagt die kritische serbische Wochenzeitung Vreme in einem Artikel am Sonntag.
Die Attentäterin habe die Dekanin der Philosophischen Fakultät von Niš nicht zufällig ausgewählt.
Die Frau, die die Dekanin mit einem Messer an der Hand verletzte, sagte unter anderem, Jovanović habe ihre Tochter ruiniert.
Das kann man so oder so auslegen.
Gleichzeitig macht alleine das Ausmaß der Kampagne der serbischen Regierungspartei SNS und der mit ihr verbündeten Medien gegen die Dekanin es nicht einfach, an einen Zufall zu glauben.
Erst vor vier Tagen bezeichnete Vučić Jovanović im staatlichen öffentlich-rechtlichen Sender RTS als Kriminelle, die er begnadigt habe.
Das war nicht die schlimmste Entgleisung gegen die Professorin, die ihre Studenten von Anfang an unterstützte, als sie nach der Katastrophe vom Bahnhof von Novi Sad mit 16 Toten am 1. November auf die Straße gingen und die Universität Niš blockierten.
Ana Brnabić, Präsidentin der Serbischen Nationalversammlung, hatte ihr vorgeworfen, „das Gesicht des Faschismus“ anzuführen. Jene Ana Brnabić, die am Sonntag das Messerattentat auf Jovanović verurteilte. Und gleichzeitig „der anderen Seite“, den Studenten, die die Massenproteste anführen, vorwarf, selbst ein Klima der Gewalt zu schaffen.
Journalisten des regimenahen Bouelvards warfen der Dekanin vor, Prüfungen zu verkaufen. Beweise gab es keine – lediglich eine Strafanzeige, die später zurückgelegt wurde.
Die Liste ließe sich lange fortsetzen. Das Portal Istinomer hat die Kampagne gegen Jovanović detailliert nachgezeichnet.
Selbst nach dem Attentat ging die Kampagne gegen Jovanović weiter. Die intransparente Seite Vaseljenska, nach Eigendefinition ein Informationsportal aus Beograd, warf der Verletzten vor, dass sie den Vorfall politisch instrumentalisiere – auf Kosten der psychisch kranken Attentäterin.
Im Vorjahr hatte die Seite eine Kampagne gegen den Beograder Gemeinderatsabgeordneten Savo Manojlović von der Oppositionsbewegung Kreni Promeni gefahren – und ihn ausgerechnet mit dem serbischen Geheimdienst BIA in Verbindung gebracht.
Die Seite hat eine Vielzahl von Profilen auf sozialen Medien und kein Impressum.
Brutale Kampagnen gegen tatsächliche oder vermeintliche Gegner haben System
Es ist nicht das erste Mal, dass die SNS und ihre Medien gegen tatsächliche oder vermeintliche politische Gegner kampagnisieren.
Die Studentenproteste, die das öffentliche Leben und die Innenpolitik in Serbien seit Monaten dominieren, und längst zu einer Volksbewegung geworden sind, werden regelmäßig als vom Ausland gesteuert dargestellt.
Die Studenten sollen wechselweise Söldner ausländischer Geheimdienste, Faschisten, neuerdings auch verkappte Bosheviki, oder junge Leute sein, die sich von bösen Kräften instrumentalisieren ließen.
In der Vergangenheit hatte man Proteste gegen die Regierung als von George Soros finanziert dargestellt.
Dass einzelne Akteure herausgegriffen und mit übertriebenen und teils frei erfundenen Anschuldigungen beworfen werden, hat System. Sichtbar auch an der Kampagne gegen den Studentenaktivisten Davud Delimeđac aus Novi Pazar.
Gegen die gingen am Samstag knapp 10.000 Menschen vor der Redaktion des Boulevardblatts Informer auf die Straße.
(Mehr über die Hintergründe siehe hier.)
Und man bedenke, welchen Widerhall in der Regime-Presse die verbalen Amokläufe von Serbiens Turbofolk-Ikone Jelena Karleuša fanden. Die beschimpfte die Protestierenden postwendend als Handlanger der Ustaša.
Oder wie schnell die gleichen Medien nach einem Beinahe-Unfall von Aleksandar Vučić von einem Attentat sprachen, und eine Verschwörung von USAID, westlichen Kapitalisten, Ustaša, Vaterlandsverrätern und gescheiterten Oppositionspolitikern dahinter sahen, zumindest letztendlich.
Das ist Alltag in Serbien.
Der Wettbewerb am Boulevard verschärft die Situation
Dagegen wirken die Kronenzeitung und die Bild wie seriöse Medien, und selbst FPÖ und AfD wirken beinahe zimperlich in der Wahl ihrer Mittel, wenn man sie mit führenden Funktionären der SNS vergleicht. Mit Betonung auf beinahe.
Auch oppositionelle Kräfte in Serbien sind nicht gerade zurückhaltend.
Aktivisten bezeichnen die SNS regelmäßig als Mafia-Clan oder Sekte.
Oppositionspolitiker gehen sehr locker mit dem Vorwurf der Diktatur um.
Regierungskritische Medien – ausgenommen einige seriöse – blasen jeden Vorwurf gegen einen SNS-Funktionär ohne nähere Recherche zum großen Skandal auf.
Auch das sind raue Töne. Kaum geeignet, den verrohten politischen Diskurs im Land zu beruhigen.
Freilich, nichts kommt dem nahe, wie die SNS und ihre verbündeten Medien auch gegen nur am Rande beteiligte einzelne Aktivisten – oder solche, die man dafür hält – kampagnisieren und sie dämonisieren.
Das mag auch an der Reichweite liegen, und der Straflosigkeit, mit der die Journalisten davonkommen, die die publizistische Drecksarbeit der SNS machen. Verschärft wird das durch den harten Wettbewerb im serbischen Boulevard. Man kämpft um jeden Leser, jeden Click. Wer am lautesten schreit, gewinnt.
Gut möglich, dass es ohne einen grundlegenden Systemwechsel auch unter der Herrschaft einer ganz anderen Partei ganz gleich zuginge, zumindest langfristig.
Egal, wie sich die politische Krise Serbiens auflöst – es wird nicht nur darum gehen, dass man keiner Partei die praktisch ungezügelte Macht zugesteht, wie sie die SNS bis vor Kurzem genoss. Es wird auch darum gehen, eine Medienlandschaft zu schaffen, in der solche Kampagnen undenkbar sind.
Man sollte nicht ein zweites Mal ernsthaft überlegen müssen, ob die Worte eines Staatsoberhaupts eine psychisch kranke Frau motivierten, auf eine oppositionelle Aktivistin einzustechen.
P. S.: Als Reaktion auf das Messerattentat auf Natalija Jovanović haben Professoren und Studenten für Montag 19 Uhr gleichzeitige Demonstrationen in Beograd, Novi Sad, Kragujevac und Niš abgekündigt.
Anmerkung der Redaktion: Dieser Beitrag spiegelt ausschließlich die Meinung des Autors wider. Nicht die Meinung der KOSMO Redaktion.
Balkan Stories, Christoph Baumgarten

Christoph Baumgarten ist Journalist und Balkanreisender aus Leidenschaft. Seit 2015 verbindet er beide Leidenschaften auf seinem Blog Balkan Stories. Dort versucht er, Geschichten zu erzählen, für die es in größeren Medien meist keinen Platz gibt und stellt die Menschen in den Mittelpunkt.
Mehr von Christoph könnt ihr unter balkanstories.net nachlesen.
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