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GESCHICHTE

Balkan Stories: Zehn Hektar Kosovo

Die Trompete und der Schuhkarton

Mittlerweile ist es neun. Der Markt ist belebt.

Auftritt eine Romaband: Eine Tuba, zwei Trommeln, zwei Trompeten und ein Schuhkarton.

Sie spielt Đurđevdan in Dauerschleife.

Die Männer umringen eine Zigaretten- und Tabakverkäuferin.

Die Ware ist nicht zwingend versteuert.

Beograd ist weit. Relativ gesehen.

Der Jüngste der Band spielt die Trompete einhändig.

In der linken Hand hält er den Schuhkarton.

Jeder gibt ein bisschen, Marktstandler oder Passant. Meist sind es zehn oder 20 Dinar.

(Foto: Balkan Stories)
(Foto: Balkan Stories)
(Foto: Balkan Stories)
(Foto: Balkan Stories)

Den Anfang macht heute die Tabakstandlerin.

Von Liège nach Kragujevac

Als ich die Band fotografiere, spricht mich der junge Kleiderhändler von gegenüber auf Französisch an. Der, der seinem halbwüchsigen Sohn den Kaffee gebracht hat.

Irfan heißt er, und war vier Jahre in Liège in Belgien. Das ist ungefähr zehn Jahre her.

Seitdem lebt er hier.

Irfan kommt aus dem Kosovo.

Irfan ist Rom.

Irgendwo in Serbien lebt es sich für einen wie ihn immer noch besser als zuhause.

„Ich hab zehn Hektar Land daheim zurückgelassen“, erklärt er.

Praktisch die ganze Familie lebt irgendwo anders, erzählt er. Die meisten Mitglieder sind in Deutschland. „Von Kassel bis Bremen“, sagt Irfan.

Sein Stand kostet 220 Euro im Monat, erzählt er mir.

Fotografieren lassen will er sich nicht.

Was Irfan und Liljana trennt

Schräg gegenüber, von ihm aus gesehen auf der rechten Seite des Schanigartens hat Liljana ihre Ware aufgebaut. Bücher, wohlgestapelt auf dem Boden.

Die dünnen Hefte kosten 100 Dinar, die dickeren 200.

Es sind vor allem Readers‘ Digest-Ausgaben und Kurzbiografien bekannter Autoren aus der Region.

Auch Liljana ist Romni.

Liljanas Mann fragt, ob ich aus Griechenland bin.

„Wieso glaubst du das?“, frage ich zurück.

„Es gibt auch blonde Griechen“.

Liljana freut sich, dass ich öfter am Balkan bin.

„Lass dir keine Angst machen, wir sind gute Menschen hier.“

Und: „Egal, was die über Serbien schreiben, wir sind alle ein Volk. Ob wir Serben sind oder Roma, wir sind ein Volk“.

„Wie“, entfährt es Irfan. „Wie ein Volk? Dein Vater ist weiß, mein Vater ist schwarz“.

Er sagt es überraschenderweise auf Jekavica.

Es gibt eine Trennlinie zwischen „weißen“ und „schwarzen“ Roma.

Entscheidend ist nicht zwingend die Hautfarbe.

„Weiße Roma“ sind völlig assimiliert, bis zu dem Punkt, wo einige sich selbst nicht mehr als Roma bezeichnen.

Unter die Kategorie können auch sehr dunkelhäutige Roma fallen.

„Schwarze Roma“ leben häufiger noch in traditionellen Familienverbänden und sprechen zumindest zu Hause Romanes.

Letztere sind wesentlich häufiger diskriminiert als Erstere.

Der Polizist und die Händlerin mit dem billigen Tabak

Am Stand neben Irfans nimmt ein Polizist in Uniform Bargeld entgegen.

So offen kann das doch nicht einmal hier passieren, denk ich mir.

Die Besitzerin geht um den Verkaufstresen herum und kommt mit dem Rücken zu mir zu stehen.

Sie kramt herum.

Ich sehe, es ist ein Plastiksackerl. Sie packt eine Kappe hinein und gibt sie dem Polizisten.

Das Geld war sein Wechselgeld.

Er geht an der Händlerin mit dem billigen Tabak vorbei.

Sie ignoriert ihn nicht einmal.

Beograd ist weit.

Relativ gesehen.

Balkan Stories, Christoph Baumgarten

Christoph Baumgarten ist Journalist und Balkanreisender aus Leidenschaft. Seit 2015 verbindet er beide Leidenschaften auf seinem Blog Balkan Stories. Dort versucht er, Geschichten zu erzählen, für die es in größeren Medien meist keinen Platz gibt und stellt die Menschen in den Mittelpunkt.

Mehr von Christoph könnt ihr unter balkanstories.net nachlesen.