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REPORTAGE

Erwachsenwerden ist wirklich nicht leicht

(Foto: iStock)

Ältere Generationen behaupten gerne, in ihrer Jugend sei alles besser, ernsthafter und berechenbarer gewesen. Die Kinder von heute durchleben Stürme und Gewitter, während sie in einer Welt, die die Erwachsenen für sie geschaffen haben, ihren Platz unter der Sonne suchen. Und das ist tatsächlich nicht leicht.

Zwei Massaker in Serbien, bei denen achtzehn Menschen ihr Leben verloren und zwanzig Kinder und Jugendliche verletzt wurden, haben uns alle, die vom Balkan stammen, und viele andere aufgerüttelt. Die Tragödie ist umso größer, da die Täter erst 13 und 21 Jahre alt waren. Beide kommen aus „gutem Hause“ und begingen ihre Untaten mit den Waffen ihrer Väter. Wie immer, wenn schreckliche Dinge geschehen, werden sie von Fachleuten, Politikern und vielen anderen kommentiert, die darin ihre Chance sehen, aus der Anonymität hervorzutreten. Im Grunde aber geht es um die Fragen: Wie sehr beschäftigen wir uns mit unseren Kindern?

Wie sehr leben wir mit ihnen und für sie? Haben wir beizeiten unsere Prioritäten im Leben bestimmt und stehen die Kinder da ganz oben? Leider werden wir immer häufiger Zeugen der verheerenden Realität, dass die heutigen Jugendlichen neben ihren Eltern her leben, d.h. dass ihre Wünsche und Ziele nur selten miteinander übereinstimmen. Wie fatal die Folgen davon sind, sehen wir, wenn wir uns umschauen. Das Magazin KOSMO will mit dieser Reportage versuchen, die Aufmerksamkeit von Eltern, Lehrern und allen anderen, die mit Kindern zu tun haben, auf elementare Probleme zu richten.

Nemanja Aranđelović (40), Psychologe
Nemanja arbeitet in der Vienna International School in Wien mit Kindern der sechsten, siebten und achten Klasse im Alter von 12 bis 14 Jahren.

(Foto: zVg.)


KOSMO: Wie wird das psychologische Profil eines Kindes bestimmt?


Nemanja Aranđelović: In der Psychologie und Psychotherapie wird das biopsychosoziale Modell angewendet. Das bedeutet, dass man die Verbindungen zwischen Biologie, Psychologie und sozioökonomischen Faktoren einerseits und psychischen Störungen andererseits ermittelt. Wenn wir über Teenager sprechen, schauen wir uns die Interaktion zwischen den biologischen Faktoren wie Genetik, biochemischen und psychologischen Prozessen an, d.h. wie ist ihr Temperament, womit wurden sie geboren: der Charakter, die sich entwickelt, die Stimmung, Persönlichkeit, das Benehmen und die sozialen Eigenschaften. Wenn wir alle diese Faktoren betrachten, können wir jetzt schwer sagen, was mit dem Burschen in Belgrad passiert ist, denn die Menschen fokussieren meistens auf einen Aspekt, z. B., dass die Peergroup, die Eltern oder die Schule schuld seien. Aber wenn wir durch dieses Prisma schauen, können wir sagen, dass alles Mögliche dazu beigetragen hat.


KOSMO: In welchem Alter kann man eine psychische Störung feststellen?


Das hängt ganz davon ab, um welche Störung es sich handelt, d.h. ob es eine Entwicklungsstörung wie Autismus oder ADHS ist, die in frühester Kindheit erkannt werden kann und mit Gehirnprozessen verbunden ist. Wenn wir hingegen von Ängsten und Depressionen sprechen, die von situativen Faktoren ausgelöst werden, dann kann das jederzeit auftreten. Und hier besteht vermutlich eine größere Verletzlichkeit. Dann betrachten wir aber auch andere Tatsachen und man kann nicht leicht sagen, wann die Entstehung einer Störung wirklich beginnt.


KOSMO: Welche Rolle spielt ein Psychologe in der Schule?


Das ist in Serbien, im österreichischen Schulsystem und in den internationalen Schulen, wo die Rolle des Psychologen sehr proaktiv ist, unterschiedlich geregelt. Der Schulpsychologe oder Beratungslehrer hält Stunden für das sozial-emotionale Lernen. In den Stunden und Workshops geht es darum, wie sich bei den Kindern folgende Fertigkeiten entwickeln: Selbstbewusstsein, Emotions- und Verhaltenskontrolle, das Finden von Entscheidungen, die den eigenen Werten entsprechen, die Übernahme von Verantwortung für sich selber und andere, ein Bewusstsein für andere.

Auf diese Weise entwickelt sich Empathie und Verständnis für die Ansichten und Erkenntnisse anderer bzw. die Achtung vor Diversität sowie die Fähigkeit zum Aufbau und Erhalt von Freundschaften und Beziehungen bzw. eine gesunde Kommunikation, Kooperation und Verständnis bei der Lösung von Problemen und Gewalt unter Altersgenossen.

Es ist sehr wichtig, eine gesunde Beziehung zu anderen zu entwickeln, wenn es in bestimmten Situationen um Konsensfindung geht. Mangelnde Kommunikationsfähigkeit kann zu der Einschätzung führen, dass bestimmte Dinge selbstverständlich sind, wenn es um Grenzsetzungen geht. Daher ist es wichtig, ein Bewusstsein für sich selber und andere zu entwickeln und die Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen. Die Kinder haben auch das Fach GESUNDHEIT, das auch die sexuelle Aufklärung umfasst. Die Themen werden ihrem Alter entsprechend behandelt.

KOSMO: Wie erfolgt die Zusammenarbeit mit Lehrern und Eltern?


Einmal wöchentlich sprechen wir in einer Teamsitzung über die Schüler, die Lern-, emotionale oder andere Probleme haben. In dem Gespräch machen wir einen Plan, wie wir ihnen helfen können, und bei Bedarf beziehen wir auch die Eltern ein. Sehr häufig sind auch die Kinder unmittelbar dabei, denn es ist wichtig zu hören, was sie zu sagen haben. Ich mache Workshops mit den Eltern, wir nennen das „positive discipline”, die wir auf die Psychologie des bekannten österreichischen Psychologen Alfred Adler gründen, der gesagt hat, dass das wichtigste psychologische Motiv ist, dass wir uns zugehörig und wichtig fühlen. Das Prinzip besteht darin, dass wir uns alle gleichermaßen um die Kinder kümmern und ihre Entwicklung beobachten, wenn sie in irgendeiner Hinsicht auffällig werden.


KOSMO: Mit welchen Störungen sind die Psychologen am häufigsten konfrontiert?


Seit der Pandemie gibt es sehr viele Angststörungen. 20–30 % der Teenager haben dieses Problem. An zweiter Stelle liegen Depressionen bzw. depressive Stimmungen und echte klinische Depressionen und anschließend finden wir sowohl bei Mädchen als auch bei Burschen eine Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper, dem sogenannten ‘Body Image’. Das liegt an gewissen Schönheitsstandards, die in den sozialen Netzwerken propagiert werden. Daher belasten sich die Kinder mit Diäten und anderen Versuchen, ihre Unzufriedenheit zu überwinden. Daraus können jedoch ernsthafte Störungen wie Anorexie oder Bulimie entstehen.

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