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REPORTAGE

KOSMO im bosnischen Horror-Camp: „Im Winter brauchen wir Leichensäcke“

(FOTO: Petar Rosandić)

Die erschreckenden Berichte aus dem Flüchtlingscamp Vučjak in Bosnien-Herzegowina erreichen nun immer mehr Menschen in Europa.

Obwohl dort schon seit Monaten eine humanitäre Katastrophe herrscht, brachte es dieser kleine Ort inmitten der Berge rund um Bihać erst letzte Woche zu größerer Bekanntheit. Es ging – wie sollte den Vučjak sonst für die Welt interessant sein? – um eine Schlägerei unter drei Flüchtlingen, von denen einer letztlich an den Verletzungen eines Messerstichs ins Herz erlag.

Was für die rechten Boulevardmedien ein gefundenes Fressen war, ist für die ehrenamtlichen Helfer im Camp nahe der kroatischen EU-Außengrenze jedoch wenig verwunderlich. „Es wundert mich, dass es sogar drei Monate gedauert hat. Wenn man Menschen so wegwirft wie Müll und sie in solchen Bedingungen leben lässt, dann dauert es nicht lang, bis schlimme Sachen passieren – unabhängig davon ob es Deutsche, Afghanen oder Bosnier sind“, sagt Dirk Planert, deutscher Journalist und Flüchtlingshelfer, der seit Juni mit anderen Ehrenamtlichen die Versorgung des komplett im Stich gelassenen Camps auf sich genommen hat.

Es passierte hier, in Vučjak, da oben, irgendwo in den Bergen hinter Bihać, im kompletten Nirgendwo des Staates Bosnien und Herzegowina. Oder wie die Bosnier sagen würden „Ma tamo, u…“. Ihr wisst schon. Hier, ja, hier in dem Camp, in dem man das Gefühl hat: „Genau hier hat Europa und die EU gute Nacht gesagt“. Auf der einstigen Müllhalde, dem derzeitigen Schandfleck Europas. Oder wie die Flüchtlinge es selbstironisch – mit einer Portion schwarzem Humor – nennen: „the jungle, it’s the jungle“.

(FOTO: Petar Rosandić)

Willkommen im Dschungel
Man hätte uns auch nicht ins Camp führen müssen, um zu erfahren, wie entsetzlich und menschenunwürdig es dort ist. Denn bereits die Vorberichte unserer Kontaktpersonen machte uns auf das Schlimmste gefasst: Fast 1000 Menschen auf engstem Raum, viele davon krank und verletzt, in unbeheizten Zelten, umgeben von Dreck, mit begrenztem Zugang zum Wasser und zwei bescheidenen Mahlzeiten vom Roten Kreuz täglich. Mit dem Eintritt ins Camp sahen wir aber dann mit eigenen Augen das, wovor die die EU und auch die politisch Verantwortlichen in Bosnien-Herzegowina am liebsten einfach nur wegschauen.

Für alle, die es wissen wollen: Ja, es ist die Hölle und ja, es ist eine humanitäre Katastrophe – und inmitten dieser von Krieg und Flucht hunderte traumatisierte junge Männer. Die, von denen viele einen trotz allem noch anlachen, freundlich die Hand schütteln und gar nicht die Perspektivlosigkeit zeigen, in der sie seit Monaten gefangen sind. Ja, dort, irgendwo zwischen dem Müll der Vergangenheit, dem Dreck der Gegenwart und dem letzten, noch immer erfolglosen Schrei nach einem Funken Menschlichkeit. Dort, nur 500 Kilometer von Wien entfernt.

 „The Game“
Nahezu jede Stunde kommen neue Flüchtlinge ins Horror-Camp, in welchem Hunger, Leid und Krankheit herrschen. So auch, als wir im Camp zu Besuch sind. Zum ersten Mal wird mir beim Aussteigen der Flüchtlinge klar, wie viel Menschen eigentlich in einen Polizei-Kastenwagen passen können. Es muss da drinnen für die vielen Flüchtlinge verdammt eng gewesen sein, denke ich mir. Doch eng wird es für die Flüchtlinge auch im Camp…

Die einen kommen, andere wiederum verlassen das Camp und machen sich auf den Weg ins sogenannte „Game“. „Bereits zweimal habe ich es versucht, das Game zu gewinnen, aber ich in gescheitert. Bald versuche ich es wieder. Es gibt kein Aufgeben. Für uns gibt es ja gar keine andere Option als diese“, sagt uns der junge Sonur Rajput aus Indien, als wir mit ihm ins Gespräch kommen. Mit „Game“ bezeichnen die Flüchtlinge das riskante „Spiel“, in welchem sie versuchen die bosnisch-kroatische Grenze zu überqueren und EU-Boden zu erreichen. Nicht nur Minen, von denen eine auch auf dem Boden des Camps letztens entdeckt wurde, sind dabei eine Gefahr für die Flüchtlinge…

„Die kroatische Polizei hat mich so lang geprüfgelt bis meine Schulter gebrochen war.“ (FOTO: Petar Rosandić)

„Die kroatische Polizei behandelt uns wie Tiere“
Denn ein Scheitern in diesem Spiel endet – laut zahlreichen Berichten der Flüchtlinge seit Monaten, so auch derer im Camp – mit Schlägen und Misshandlungen durch die kroatische Polizei. In nahezu jedem Gespräch mit uns ist das „brutale Vorgehen“ der kroatischen Grenzpolizisten ein Thema. „Sie haben mir nicht nur all mein Geld, alle was ich mitnahm, ja sogar die Schuhe genommen und das Handy zerstört. Nein, sie haben mich so lange geschlagen, bis auch meine Schulter gebrochen war“, erzählt uns ein afghanischer Flüchtling, dessen Oberkörper komplett im Gipsverband ist (siehe Foto).

„Bitte, bitte, sagt es den kroatischen Polizisten: Wir sind doch auch Menschen, keine Tiere“, sagt der junge Inder Sonur zu uns. Das kroatische Innenministerium hingegen weist die Vorwürfe weiterhin zurück, obwohl die scheinbar systematische Brutalität vor allem im „Krankenhaus von Vučjak“ sichtbar wird: Die meisten der Flüchtlinge kommen mit Verletzungen dorthin und müssen sofort behandelt werden.

Fast 1000 Menschen auf engstem Raum, viele davon krank und verletzt, in unbeheizten Zelten, umgeben von Dreck, mit begrenztem Zugang zum Wasser und zwei bescheidenen Mahlzeiten vom Roten Kreuz täglich.

Aber das „Krankenhaus von Vučjak“ ist auch gar kein richtiges Krankenhaus, sondern ein bescheidenes, unbeheiztes Zelt, in dem ehrenamtliche Helfer und Ärzte aus Deutschland, Slowenien, Ungarn und Österreich täglich das Unmögliche möglich machen. Ohne sie wäre Vučjak zweifellos bereits die totale Katastrophe. Denn dann hätten die Flüchtlinge gar keine medizinische Versorgung mehr, da sie ja vom Spital in Bihać nur mit Ausnahmegenehmigungen behandelt werden.

„Mali Švabo“ aus Dortmund
Eine Stunde bevor wir das Camp betraten, war die Welt ja noch irgendwie in Ordnung. Beim gemeinsamen Kaffee im Hotel Park im Zentrum von Bihać, wo uns ein kettenrauchender, sichtlich mitgenommener Journalist aus Deutschland versuchte die Welt von Vučjak zu erklären.

Dirk Planert war bereits im Bosnien-Krieg in Bihac. Jetzt kommt erin einer anderen aber genauso humanen Mission.(FOTO: Petar Rosandić)

Dabei wird der Dortmunder Dirk Panert emotional, ja auch teilweise lauter – irgendwie als wäre in Bihać noch immer der Krieg, den er als junger Mann mit den Einheimischen hier erlebt hat. Doch, Vučjak ist wohl der Beweis: Auch ohne Krieg, wenn man Menschen im Stich lässt und sie, wie Planert sagt, „wegwirft wie Müll“ – passieren Zustände, die man wohl auch mit kriegsähnlichen Humanitärkatastrophen vergleichen kann. Und, es gibt noch eine große Parallele, die Dirk wohl auch an die Zustände von damals erinnern wird: „Die ganze Welt hat zugesehen, wie die Menschen in Bosnien damals zugrunde gehen. Niemand aus der großen internationalen Politik hat etwas dagegen getan, um die Katastrophe zu verhindern. Und so ist es jetzt wieder in Vučjak“.

Im Winter brauchen wir Leichensäcke“
Für den Dortmunder, der als junger Mann sein Studium abbrach um im Balkankrieg um humanitäre Transporte nach Kroatien und Bosnien zu bringen, ist es sein zweiter großer Lebenskampf: Hier, in der Stadt, wo jeder den „mali Švabo“ von damals kennt, wie ihn die Bosnier lieblich nennen. Er, der damals jahrelang die Bilder des bosnischen Kriegsleids schoss und in die Welt brachte. Und er, der mit den Bewohnern zur schlimmsten Zeit eingekesselt war, als täglich 2.000 Granaten auf die Stadt fielen. Egal wie man es dreht oder wendet: Dirk ist ein Teil von Bihać. Und Dirk ist der Mann, der sich im totalen Wahnsinn bemüht, nicht selber wahnsinning zu werden. Er erzählt uns davon, wem das Bein doch noch gerettet werden konnte, wie aus einem Zelt ein Krankenhaus wird und er scheut es ganz und gar nicht, seine Einschätzung für die nächsten Monate kund zu tun: „Wir werden hier noch Leichensäcke im Winter brauchen, wenn es bald keine politische Lösung gibt“, sagt Planert.

Jusuf Lulić: „Wie sollen wir den Flüchtlingen helfen, wenn wir selber fast nichts haben.“ (FOTO: Petar Rosandić)

„Wir waren ja selber Flüchtlinge“
Angewidert ist Planert von den BesucherInnen mancher internationaler Organisationen, „die herkommen, um sich im Camp wie in einem Zoo umzusehen, dann in den feinsten Hotels der Region hausen und danach nichts tun“. Doch, dass was ihm noch mehr weh tut scheinen manche Reaktionen aus der Bevölkerung zu sein, die – wie er sagt – die „Flüchtlinge als Ungeziffer ansehen und auch genauso behandeln“. Erst letztens wurde er von bosnischen Rechtsextremisten öffentlich beleidigt – gerade er, der so viel für die Bevölkerung von Bihać getan hat.

Aber wir können in diesem Punkt – zumindest was unsere Gespräche mit der lokalen Bevölkerung angeht – Dirk zum Glück auch positive Gegenbeispiele geben. „Ach, die Flüchtlinge, die sind so arm wie wir es im Krieg waren, die haben doch nichts. Gerade wir Bosnier wissen, was es bedeutet, Flüchtling zu sein. Nur: Wie sollen wir ihnen helfen? Der Staat Bosnien-Herzegowina kann sich ja selbst nicht mal helfen. Meine Pension ist gerade mal 160 Euro“, sagt der Pensionist Juso Lozic (72), den wir gemeinsam mit seiner Frau Zuhra (74) auf dem Parkplatz eines Supermarkts ansprechen. Davor trafen wir auf dem dortigen Parkplatz Flüchtlinge, die vom Supermarkt-Geschäftsführer jeden Tag ein Gratis-Sandwich bekommen.

Mehmed Muharemović – Kriegsinvalide über Flüchtlinge: „Wer soll sie verstehen, wenn nicht wir, die Bosnier“ (FOTO: Petar Rosandić)

Wer soll sie verstehen – wenn wir nicht, die Bosnier?
Die Flüchtlinge sind nicht nur im Camp: Viele sieht man auch auf den Straßen westbosnischer Dörfer und Städte. So auch in Cazin, wo wir uns im Abends gut besuchten Lokal „Halka“ – bei traditioneller bosnischer Live-Musik – unter anderem mit Mehmed Muharemović unterhalten. Der Kriegsinvalide, der einst in der Einheit „Peti korpus“ (Fünfter Korpus) im Kessel von Bihać kämpfte und dabei ein Bein verlor, hat in erster Linie Verständnis für die Situation der Flüchtlinge.

„Ich verstehe sie, wer soll sie verstehen wenn nicht wir – die Bosnier. Aber es ist wieder das Gleiche: Europa lässt uns im Stich mit ihnen. Und wenn der Winter einbricht, die Kälte und der Hunger kommt, wird es mich nicht wundern, wenn sie beginnen zu rauben, zu stehlen…“, zeigt sich Muharemović besorgt. „Wir haben nichts gegen die Flüchtlinge. Viele, denen ich begegne, sind freundlich und ich kann wirklich nichts gegen sie sagen. Sie tun mir leid, ich fühle ihr Schicksal. Aber der Winter wird ein Chaos, wenn uns niemand hilft“, sagt Mehmed, der heute eine 200 Euro Kriegsinvaliden-Pension bekommt.

Österreicher helfen: Spendenübergabe des Roten Kreuzes (FOTO: Petar Rosandić)

Österreicher organisieren Hilfe
Obwohl die Stimmung in Österreich gegenüber Flüchtlingen seit 2015 sich zweifellos zum Negativen gewendet hat, sind es gerade wieder einige Österreicherinnen und Österreicher, die hier ins Camp spenden bringen und vor Ort ehrenamtlich helfen.

Brigitte Holzinger, in Oberösterreich auch bekannt als „Afghanenmama“, die sich mittlerweile jahrelang um minderjährige, unbeaufsichtigte Flüchtlinge kümmert, ist mittlerweile nicht nur eine Freundin, die mir sehr ans Herz gewachsen ist. Sie war auch der Motor dieser Aktion, einer von vielen, die sie in den letzten Jahren gestartet hat. Als sie mich anrief mit der Bitte zu helfen und gemeinsam runterzufahren, wusste ich: Der Hut brennt.

So brachten Brigitte aus Oberösterreich, Heidi Pohl aus Tirol, Hajrudin Družanović aus Kremsmünster, Vivien Rose aus Baden und ich gemeinsam nach Vučjak Spenden, die vorher in ganz Österreich gesammelt wurden, angefangen von winterfester Kleidung bis zu Decken und Schuhen (viele der Flüchtlinge waren sogar barfuß, als wir dorthin kamen).

Diese Privatinitiative, unterstützt durch die Volkshilfe Oberösterreich, ist natürlich – realistisch betrachtet und langfristig gesehen – ein Tropfen auf den heissen Stein. Denn: Jeden Tag kommen neue Flüchtlinge nach Vucjak und Privatinitativen alleine werden die humanitäre Katastrophe langfristig kaum aufhalten können.

Mit „Game“ bezeichnen die Flüchtlinge das riskante „Spiel“, in welchem sie versuchen die bosnisch-kroatische Grenze zu überqueren und EU-Boden zu erreichen.

Bei der Rückreise, in der wir kaum alle Eindrücke aus dem Camp verarbeiten konnten, wurde uns allen klar: Wir müssen wieder hin, wir planen bereits den nächsten Transport und wir werden weiter helfen. So lange, bis es das Camp Vučjak endlich nicht mehr gibt…

Alle Fotos findet ihr auf den nächsten Seiten!