Der Geruch von Schießpulver hängt noch in den Fluren, während Ermittler den Tathergang rekonstruieren. Ein ehemaliger Schüler hinterließ zehn Tote und viele offene Fragen.
Der Geruch von Schießpulver hängt noch in den Fluren des Bundes-Oberstufenrealgymnasiums in der Dreierschützengasse. Hier verübte ein 22-jähriger ehemaliger Schüler am Dienstag ein Massaker mit zehn Todesopfern, bevor er sich selbst das Leben nahm. Ermittler arbeiten nun akribisch daran, den Tathergang zu rekonstruieren, mögliche übersehene Warnsignale zu identifizieren und den Weg des Täters zu den beiden Tatwaffen nachzuzeichnen.
Die ersten Untersuchungen legen nahe, dass der Täter aus Graz Mobbingerfahrungen gemacht hatte und in Online-Foren ein ausgeprägtes Rachebedürfnis entwickelte. Das Muster erscheint bekannt: soziale Isolation, eine Faszination für Waffen und fehlende psychologische Unterstützung bildeten offenbar den Nährboden für die Gewalttat. Ob die steirischen Behörden frühzeitige Anzeichen registrierten, bleibt derzeit ungeklärt. Das Innenministerium hat jedoch bereits angekündigt, sämtliche digitalen Spuren des Täters lückenlos zu analysieren.
⇢ Grazer Blutbad: Schütze kaufte sich Waffe erst vor wenigen Tagen
Amokläufe kennen keine Landesgrenzen. In den Vereinigten Staaten dokumentierte die Organisation Gun Violence Archive (Dokumentationsstelle für Waffengewalt) bis April dieses Jahres bereits 117 Massenschießereien. Europa verzeichnet zwar deutlich weniger solcher Vorfälle, doch die traumatischen Folgen bleiben dieselben – ob in Winnenden vor 15 Jahren, in München 2016 oder in Hamburg im vergangenen Jahr.
Definitionen und Warnsignale
Nach derartigen Gewalttaten entbrennt regelmäßig eine Diskussion über die korrekte Einordnung: Handelt es sich um Terrorismus oder einen Amoklauf? Laut Definition der Weltgesundheitsorganisation charakterisiert sich ein Amoklauf durch „plötzlich einsetzende, nicht provozierte Episode extremer Gewalt, die häufig im Suizid endet“.
Der entscheidende Unterschied zum Terrorismus liegt im fehlenden ideologischen Motiv, wie Der Spiegel nach dem Anschlag in München 2016 in einer vielbeachteten Analyse darlegte.
„Neun von zehn Tätern sprechen oder schreiben vorab über ihre Tatfantasien – das Problem ist, dass niemand systematisch zuhört.“ Mit diesen Worten beschreibt Gisela Mayer von der Stiftung gegen Gewalt an Schulen ein zentrales Präventionsdefizit. Fachleute identifizieren fünf typische Anzeichen: konkrete Gewaltankündigungen, obsessive Nachahmung früherer Täter, plötzliche Waffenbeschaffung, sozialer Rückzug und ein verfestigtes Kränkungsnarrativ.
Internationale Forschungsergebnisse zeigen, dass das Risiko dramatisch ansteigt, wenn mindestens drei dieser Faktoren zusammentreffen.
⇢ Grazer Amoklauf: Das wissen die Behörden über den Todesschützen
Präventive Maßnahmen
Die Gedenkveranstaltungen zum zehnten Jahrestag des Winnender Schulmassakers machten 2019 deutlich, welche Fortschritte bei Polizeistrategien und schulischen Krisenplänen erzielt wurden: Polizeibeamte im Streifendienst warten nicht mehr auf Spezialkräfte, sondern greifen unmittelbar ein; zahlreiche Bildungseinrichtungen trainieren regelmäßig den Umgang mit Alarmsituationen. Dennoch bestehen nach Einschätzung von Expertinnen wie der Kriminologin Britta Bannenberg weiterhin gravierende Schwachstellen – etwa bei der systematischen Erfassung von Drohungen oder beim Informationsaustausch zwischen Jugendämtern, psychiatrischen Einrichtungen und Sicherheitsbehörden.
Statistisch betrachtet sind Amokläufe in Europa ein seltenes Phänomen. Doch gerade diese Seltenheit führt dazu, dass präventive Maßnahmen zwischen den Ereignissen in Vergessenheit geraten – bis erneut Alarmsirenen ertönen. Die Tragödie von Graz zwingt Politik, Bildungswesen und Gesellschaft zu einer kritischen Überprüfung, ob die Lehren aus früheren Gewalttaten tatsächlich umgesetzt wurden.
Wenn sich der Rauch verzogen hat, bleibt letztlich nur eine quälende Frage: Wäre diese Katastrophe vermeidbar gewesen?
Folge uns auf Social Media!