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REPORTAGE

Freilernen statt Schulunterricht: Wir trafen Familie Siakkos

Selbstbestimmte Bildung_Familie Siakkos (FOTO: zVg.)

Wie wäre es, wenn ihre Kinder nicht in die Schule gehen, sondern selbst bestimmen können, was sie lernen wollen? Würden Sie als Eltern diesen Bildungsweg wagen? Wie das funktionieren kann, zeigt uns die Familie Siakkos…

Die Anfänge des staatlichen Schulwesens in Österreich gehen auf die Schulreform von 1774 unter Maria Theresia (öffentliche Staatsschule, sechsjährige Schulpflicht) zurück. Damals wurde die Unterrichtspflicht eingeführt. Was viele aber nicht wissen, ist, dass Unterrichtspflicht nicht dieselbe Bedeutung wie Schulpflicht hat. In Österreich können Kinder ihre Unterrichtspflicht während der ganzen Schulzeit durch den häuslichen Unterricht erfüllen. Wenn Eltern diese Bildungsart für ihre Kinder wählen, müssen sie nur eine einzige Voraussetzung erfüllen – ihn vor dem Beginn des Schulj ahres im Referat für Externisten melden. Im Falle einer positiven Antwort können Eltern ihre Kinder unterrichten oder sie von einer anderen Person unterrichten lassen. Ob der Unterricht im Laufe des Schuljahres tatsächlich gelungen ist, wird im Rahmen der sog. Externistenprüfung überprüft. Wenn das Kind die Prüfung besteht, kann es weiterhin häuslich unterrichtet werden, wenn nicht, muss es in die ordentliche Schule gehen. Der häusliche Unterricht ist zwar die einzige gesetzlich geregelte Alternative zum klassischen Schulsystem. Allerdings setzt sich der Verein „Freilerner” (www.freilerner.at) für einen anderen Bildungsweg ein, der bis jetzt rechtlich nicht anerkannt ist – für Selbstbestimmte Bildung, besser bekannt unter dem Begriff „Freilernen”. Was genau bedeutet es, „selbstbestimmt zu lernen”? Das erklärt uns unsere Gesprächspartnerin Karin Siakkos, eine 45-jährige Steirerin mit 4 Kindern – Tamino (15), Allegra (12), Philomena (8) und Aeneas (4).

Freilernen
„Beim Freilernen geht es nicht um ein Konzept oder eine Methode, sondern um die natürliche Art und Weise, wie ein Mensch lernt. Ein Kind lernt nie wieder so viel wie in den ersten zwei, drei Jahren und in dieser Zeit findet aber weder ein Unterricht noch sonst irgendein Zwang von außen statt. Das ist etwas, was sich natürlich entwickeln darf und genau das unterstützt das selbstbestimmte Lernen bzw. die selbstbestimmte Bildung. Es ist ganz wichtig zu verstehen, dass es beim Freilernen um eine Lebenseinstellung geht, die uns erlaubt, neugierig und offen für Neues zu sein. Heutzutage wird das lebenslange Lernen oft von Volkshochschulen, AMS oder WIFI propagiert, aber das ist etwas, was ein Mensch natürlicherweise macht und was im Schulsystem eigentlich abtrainiert wird. Freilernen ist eine zeitgemäße und kindergerechte Form des Lebens und des Lernens und auch meiner Meinung nach artgerecht, weil es so konzipiert ist, wie der Mensch von Natur aus programmiert ist zu lernen – mit Begeisterung”, erklärt uns Karin am Beginn des Gesprächs.

Karin Siakkos: „Freilernen ist eine kindergerechte Form, weil es so konzipiert ist, wie der Mensch von Natur aus programmiert ist zu lernen — mit Begeisterung.”

Obwohl sie selbst Lehrerin von Beruf ist, geht keines von ihren Kindern in die Schule. „In der Schwangerschaft mit meinem ersten Kind habe ich lebensverändernde Bücher bekommen, vor allem von John Holt, einem US-amerikanischen Autor und Pädagogen. Er war so wie ich – ein total junger und motivierter High School-Lehrer, der eigentlich die Schule revolutionieren wollte. Ich habe eines nach dem anderen von seinen Büchern verschlungen, und habe eigentlich begriffen, dass alles, was er gesagt hat, sich unglaublich richtig anfühlt. Als mein erster Sohn auf die Welt kam, war ich wirklich davon begeistert, wie genau er von Anfang an gewusst hat, was er braucht und was er will und uns den Weg gewiesen hat. Früher habe ich geglaubt, dass Kinder wie leere Gefäße sind, die gefüllt werden oder geformt werden müssen. Je länger ich den neuen Weg gegangen bin, desto mehr habe ich bemerkt, dass sie vom ersten Tag an eigenständige Persönlichkeiten sind, die man nicht verändern muss.”

Kinder haben Recht auf Menschenwürde
Dass Kinder für sich selbst entscheiden können, was sie begeistert und interessiert, sieht Karin als grundlegendes Menschenrecht. Daher setzt sie sich seit 15 Jahren zusammen mit Elternvereinen in Österreich und Europa dafür ein, dass dieser Bildungsweg rechtlich anerkannt wird. Neben der Unmöglichkeit der Selbstbestimmung im klassischen Schulsystem, kritisiert Karin auch die Tatsache, dass Kinder keine Wahl haben. „Sie können nicht ’nein’ sagen. Vielleicht haben sie ein Problem mit Lehrern oder Schulkollegen und es sammelt sich die Aggression in ihnen an, weil sie nicht sagen dürfen ’Ich kann nicht mit diesen Menschen, bitte lasst mich woanders hin’. Und das ist eine Situation, die menschenunwürdig ist. Jeder erwachsene Mensch kann entscheiden, ob er seinen Chef oder seinen Beruf mag, aber ein Kind in der Schule muss jeden Tag mit 25 Gleichaltrigen ohne Wahl eingesperrt werden. Ein Kind ist aber auch ein Mensch. Der erste Artikel des Grundgesetzes der österreichischen Verfassung lautet: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Wir setzen uns seit 15 Jahren dafür ein, dass Kinder achtsam, respektvoll und auf Augenhöhe behandelt werden. Viele Menschen behandeln Kinder als nicht zurechnungsfähig und bringen viele negative Begrifflichkeiten mit ihnen in Verbindung.”

Im Laufe ihrer Karriere hat Karin aber nicht nur negative Seiten des klassischen Schulsystems kennengelernt, sondern auch positive, weshalb sie nicht der Meinung ist, dass Schule abgeschafft werden sollte: „Wir sollen die Schulen umdenken. Nämlich so, wie es eigentlich sehr oft im Lehrplan steht: Sie soll individuell und aufs Kind abgestimmt sein, team- und bedürfnisorientiert.”

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