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Balkan Geschichte

Sarajevo: Der zweite Tod der bosnischen Seele

FOTO: Balkan Stories

Das kulturelle Gedächtnis Bosniens könnte bald verschwunden sein. Schuld sind diesmal nicht serbische Milizen wie im Bürgerkrieg sondern politisches Desinteresse, ein dysfunktionaler Staat und das eigenartige Spiel der Stadtverwaltung von Sarajevo. Eine Reportage, die Buchliebhaber und Bibliothekare nachhaltig verstören könnte.

„Oh, du kannst Kyrillisch lesen?“ Bedita Islamović strahlt. Sie hält mir im Lager der National- und Universitätsbibliothek Bosniens (NUB) in Sarajevo eine serbische Übersetzung von „Madame Bovary“ entgegen.

Kyrillisch lesen gehört für die Bibliothekarin zum bosnisch sein. Für sie, der serbisch-nationalistische Milizen 1992 den Arbeitsplatz in Brand geschossen haben. Mit der bosnischen Nationalbibliothek wollten sie die kulturelle Existenz der bosnischen Nation zerstören.

„Glaubst du, ich habe gezählt?“

An die zwei Millionen Bücher und einzigartige Handschriften verbrannten. Mitarbeiter und Passanten retteten, was sie konnten. „Wir haben eine Rettungskette gebildet und die Bücher einander zugeworfen, bis sie draußen waren“, erzählt Hermin, Bibliotheksmitarbeiter seit Jahrzehnten.

„Fünf, vielleicht zehn Prozent der Bestände haben wir rausgebracht“, sagt Hermin. Ob er schätzen kann, wie viele Bücher er selbst gerettet hat? „Glaubst du, ich habe in der Situation gezählt?“

Was übrig blieb, ist im hintersten Trakt der ehemaligen Tito-Kaserne in Sarajevo untergebracht, die nach dem Krieg zum Uni-Campus umfunktioniert wurde.

Die einzige nicht renovierte und ausgemalte Häuserzeile ist die der NUB.

Die spärlichen Studenten und Forscher, die an diesem Vormittag auf die Bestände der NUB zugreifen, sind auf mehrere kleine Leseräume verteilt. Für einen großen Lesesaal fehlt der Platz in der ehemaligen Kaserne.

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Eine Nationalbibliothek wird boykottiert

„Unser Bestand ist in den vergangenen Jahren wieder gewachsen“, erzählt Bedita. Es sind vor allem Bosniaca und internationale wissenschaftlicher Literatur. „Bibliotheken auf der ganzen Welt haben uns mit Bücherspenden ausgeholfen und so einen Neuanfang ermöglicht.“

Das kann die einzigartigen jahrhundertealten Handschriften nicht ersetzen, die 1992 verbrannten. Etwa bosnischsprachige Gedichtbände in arabischen Schriftzeichen. Aber es ermöglicht den Betrieb als Bibliothek.

Wenn auch nur eingeschränkt. Aus der Republika Srpska (RS) kommen keine Belegexemplare. Das ist der serbisch dominierte Teilstaat Bosniens.

Die NUB bekommt nur Exemplare aller Bücher und Periodika, die in der Federacija erscheinen. Das ist der bosnjakisch-kroatisch dominierte Teilstaat.

„Die RS erkennt uns nicht als Nationalbibliothek an“, erklärt Bedita. Wie die RS nach Möglichkeit überhaupt keine gesamtstaatlichen Einrichtungen anerkennt.

Die dortigen Machthaber betreiben eine eigene Nationalbibliothek in Banja Luka. Und schicken zusätzlich alle Exemplare von Büchern und Periodika, die in der RS erscheinen, in die serbische Nationalbibliothek in Beograd.

Fallweise reicht die serbische Nationalbibliothek unter der Hand Druckwerke aus der RS an die bosnische Nationalbibliothek in Sarajevo weiter. So funktioniert die NUB zumindest einigermaßen als gesamtbosnische Nationalbibliothek, die sie ihren Statuten gemäß ist.

Dass man sich die Druckwerke aus der RS nicht kaufen kann und so den Boykott umgehen, ist ebenfalls der Politik in Banja Luka geschuldet.

So lange die RS die NUB nicht als bundesweite Einrichtung anerkennt, darf die kein Geld der bosnischen Bundesregierung bekommen. Sofern man das Gremium mit den Kompetenzen einer besseren Hausverwaltung als Regierung bezeichnen kann.

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Kein eigenes Budget

„Wir haben kein eigenes Budget“, schildert Bedita die Lage. „Wir bekommen gerade so viel Geld, dass wir nicht zusperren müssen. Das kommt von Ministerien der Federacija und der Stadt Sarajevo für Projekte und in Form von Förderungen.“

In Summe hat die NUB deutlich weniger als eine Million Euro im Jahr zur Verfügung. Das schließt die Gehälter ein. Die sind entsprechend. Bedita, eine der leitenden Mitarbeiterinnen, etwa verdient weniger als 500 Euro im Monat.

Weniger als eine Million Euro, das erscheint schäbig für eine Einrichtung, die man getrost als die Seele des Landes bezeichnen kann.

Nationalbibliotheken – auch diese – archivieren alle Zeitungen und Zeitschriften, Broschüren und Plakate mit größerer Auflage. Sie machen sie der Öffentlichkeit zugänglich und erforschen sie. Nationalbibliotheken sind das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft.

Und was, wenn nicht die Kultur, definiert eine Gesellschaft? Was, wenn nicht die Kultur, macht eine Nation zu einer Nation? Eine zumal, die nicht nur in den Augen Beditas nicht eindimensional ethnisch ist?

Wo Tito Tito sein darf

Ein bisschen zusätzliches Geld bringt Hermin herein. Seine Werkstatt ist in einem ehemaligen Schuppen. Hier restauriert er Bücher für andere Bibliotheken und für Privatkunden.

Unterstützt wird er von seinem Assistenten Tito, der offiziell einen muslimischen Vornamen trägt. „Im Krieg hat der Name Tito den offiziellen Stellen nicht mehr gepasst“, schildert Bedita. „Es hat massiven Druck auf die Eltern gegeben, dass sie ihn umbenennen“.

In der NUB kümmern nationalistische Aufwallungen gleich welcher Art niemanden. Tito heißt hier immer noch Tito.

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