Im Winter 1984 schien sich das Leben von Tim, einem Priester, und Julie Tenant, einer Hausfrau, endlich zu vervollständigen. Nach Jahren des Wartens eröffnete ihnen eine Adoptionsagentur, dass zwei Geschwister, die eineinhalbjährige Beth und ihr sieben Monate alter Bruder Jonathan Thomas, auf eine neue Familie warteten. Die Tenants, die bereits ein glückliches Eheleben führten und stolze Besitzer von vier Hunden waren, konnten ihr Glück kaum fassen.
Der Adoptionsprozess ging in ihrem Fall ungewöhnlich schnell vonstatten. Die Tenants waren sich der tragischen Umstände der Geschwister bewusst. Die Mutter starb an einer Nierenerkrankung und der Vater hatte die Kinder vernachlässigt, sodass man sie in ihrer verkrusteten Kleidung und unterernährt ins Waisenhaus brachte. Was das Ehepaar jedoch nicht wusste, war die Tatsache, dass der monströse Vater Beth seit ihrer Kindheit regelmäßig sexuell missbraucht hatte.
Beths Alpträume waren das erste Anzeichen dafür, dass etwas nicht stimmte. Schon im Alter von drei Jahren berichtete sie ihrer Mutter von einem Mann, der in ihren Träumen „schreckliche Dinge“ mit ihr tat. Julie vermutete damals bereits, dass ihre Tochter ein sexuelles Trauma erlitten hatte, glaubte jedoch, dass Liebe und Fürsorge die seelischen Wunden heilen würden. Leider verschlimmerten sich die Dinge im Laufe der Zeit.
Beth begann zwanghaft zu masturbieren und zeigte zunehmend aggressives Verhalten, das sich sowohl gegen Familienmitglieder als auch gegen Tiere richtete. Ihr kleiner Bruder war das häufigste Opfer ihrer Aggression. In der Erkenntnis, dass alle Familienmitglieder in Gefahr waren, suchten die Tenants professionelle Hilfe. Dr. Ken Magid, ein klinischer Psychologe, widmete sich ihrem Fall am intensivsten. Die therapeutischen Sitzungen mit der sechsjährigen Beth veröffentlichte man 1990 in der Dokumentation „Child of Rage“ (Kind des Zorns).
Die Reaktionen auf die Dokumentation waren heftig, und viele bezeichneten Beth als Psychopathin, obwohl es keine Tests für Kinderpsychopathie gibt. Die korrekte Diagnose lautete jedoch reaktive Bindungsstörung. Das ist eine Störung, die bei Kindern entsteht, die keine Liebe von ihren leiblichen Eltern erfahren haben, vernachlässigt oder missbraucht wurden.
Ende 1990 wurde Beth in eine Einrichtung eingewiesen, die sich auf die Behandlung dieser Störung spezialisiert hatte. Fast ein Vierteljahrhundert später sprach sie in einem Radiointerview über ihren langen Genesungsweg. Durch intensive Therapie zur Stärkung von Beths Selbstvertrauen, erlangte sie schließlich Empathie und kehrte in das Elternhaus zurück.
Heutzutage widmet Beth ihr Leben der Fürsorge für andere als Krankenschwester auf einer Intensivstation. Sie hat zwei Bücher über ihre traumatische Kindheit geschrieben und hält regelmäßig Vorträge über reaktive Bindungsstörungen. Das „Kind des Zorns“ existiert heute nur noch in ihrer Erinnerung.
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